Rezensionen


Teresa von Ávila: Die innere Burg
 
Eine Salbe für unsere Wunde
 
Von Darius Amberger, 10. April 2024
  
Philon von Alexandria sprach in De somniis von zwei Tempeln Gottes, von denen der eine die physische Welt und der andere die Seele sei. Teresa von Ávila hingegen verwendet für "unsere Seele" als allegorisches Bild eine Burg mit sieben Wohnungen, die sich durch zunehmende Nähe zu Gott auszeichnen, während in der materiellen Welt alles Lüge und Falschheit sei. Anders als beispielsweise bei den sieben Terrassen des Läuterungsberges in Dantes Göttlicher Komödie sind bei ihr die Lebenden darum bemüht, zur nächsten der sieben Wohnungen zu gelangen, wobei der Zutritt von der jeweils erreichten Stufe des Gebets abhängt. Sie beschreibt die Arten des Gebets, die Wohnungen, denen jeweils eines der sieben Kapitel gewidmet ist, und was nötig sei, um dorthin zu gelangen.

Die innere Burg trägt autobiografische Züge. Die Anrede zielt auf Schwestern ihres Ordens. Häufig bezieht sie sich auf eine Person, von der sie wisse oder die ihr vertraut sei, um mystischen Gotteserfahrungen zu schildern, was sowohl dem Selbstschutz als auch der stilistischen Bereicherung dient, etwa wenn sie schreibt: "Sie fühlte ihn [Jesus Christus] zu ihrer Rechten, aber nicht mit den Sinnen, die uns jemanden gewahren lassen, der neben uns ist; denn man gewahrt es auf andere, feinere Weise, die man wohl nicht mit Worten beschreiben kann, aber diese Wahrnehmung ist genauso sicher, ja man erfasst sie mit noch größerer Gewissheit als irgendeine Beobachtung mit den Sinnen." Oder: "Tröstend sprach der Gekreuzigte selbst zu ihr, er schenke ihr alle Schmerzen und Leiden, die er in seiner Passion erlitten, damit sie ihr eigen seien und sie dieselben ihrem Vater darbringe."
Auch der Akt des Verfassens dieses Werkes über das Gebet wird thematisiert. Was sie zu vermitteln sucht, ist theologischer Natur und der von ihr begangene Weg ein spiritueller. Dabei gibt sie sich, was ihre Kompetenz betrifft, hochgradig bescheiden. Der gesamte Text ist durchdrungen von einer "Salbe für unsere Wunde", wie Teresa die Demut gegenüber Gott bezeichnet, zu der sie anmerkt, dass nichts wichtiger als diese sei, ganz im Geist der Gnadenlehre Augustinus', den sie wiederholt erwähnt. Auch neigt sie dazu, sich verbal abzuwerten. Verfolgt zu werden nennt sie eine Wonne und selbst von Gott als Sklave in die Welt verkauft zu werden eine nicht geringe Gnade. "Ich würde jedoch immer den [Weg] des Leidens wählen, schon um es unserem Herrn Jesus Christus nachzutun."

Neben der titelgebenden Allegorie verwendet Teresa Metaphern, Gleichnisse wie das der Seidenraupe, die zum Falter wird, der sich bis zur siebten Wohnung weiterentwickelt, und andere bildhafte Vergleiche. "Die Sünden aber sind wie der Schlamm auf dem Grund einer Lache; denn immer wieder werden sie von Erinnerungen aufgewühlt." Die Seele wird mal entkörperlicht, mal mit separaten Augen versehen und zuweilen darf der Verstand durch einen kleinen Spalt betrachten, was mit ihr geschieht. Rhetorische Übertreibungen finden sich selten, "denn Übertreibungen sind nicht gut, auch nicht in der Tugend". Und an anderer Stelle: "Ich möchte nicht, dass er aussieht, als übertriebe ich; denn in Wirklichkeit sehe ich, dass ich noch zu wenig sage, weil es mit Worten nicht auszudrücken ist."
Trotz aller Demut ein beeindruckendes Werk aus dem 16. Jahrhundert, in der Ausgabe von Diogenes übersetzt von Fritz Vogelgsang.

Shehan Karunatilaka: The Seven Moons of Maali Almeida
 
Evil doesn't know it is evil
 
Von Darius Amberger, 7. Februar 2024
  
Unter britischer Herrschaft wurden singhalesische und tamilische Königreiche zu einer Kolonie zusammengeführt. Für Verwaltungsaufgaben im damaligen Ceylon verwendeten die Briten meist hinduistische Tamilen, was zu Ressentiments bei buddhistischen Singhalesen führte, die dem dadurch entstandenen Ungleichgewicht bei Stellenbesetzungen und Bildung nach der Unabhängigkeit durch Vorteilsgewährung für die eigene Ethnie entgegenwirkten, worauf tamilische Gruppierungen einen separaten Staat anstrebten. Was folgte, war ein Bürgerkrieg mit Pogromen, ethnischen Säuberungen und Massenmorden, worüber auch hierzulande immer wieder berichtet wurde.
Zur Zeit der sieben Monde des Maali Almeida ist der Krieg nahe einer seiner blutigen Höhepunkte. Doch die Toten dieses Buches sind nicht einfach tot. Eine alte Tradition befolgend wirken sie als Geisterwesen weiter. Viele suchen Rache, wie zuvor als Lebende, wobei der Tod von Unbeteiligten in Kauf genommen wird, während Maali, Erzähler der Geschichte und ebenfalls ein Geist, erst einmal verstehen muss, dass er, was er sieht und hört, nicht lediglich träumt, bevor er nach anderen Möglichkeiten der Einflussnahme und nach seinen Mördern sucht. Er und seinesgleichen sind äußerlich im selben Zustand unterwegs, in dem sie beim Eintritt ihres Todes waren, der meist ein grauenhafter ist: blutbeschmiert, mit Knochenbrüchen, einige mit unvollständigen Gliedmaßen oder den eigenen abgetrennten Kopf mit sich herumtragend.

Der reale Bürgerkrieg ragt tief in dieses fiktionale Werk hinein. Als Vorbild für die Hauptfigur nannte Karunatilaka Richard de Zoysa, einen im Land bekannten regierungskritischen Journalisten, der 1990 ermordet wurde und wie größtenteils auch Maali sowohl singhalesischer als auch tamilischer Abstammung und homosexuell war. Zu Dr. Ranee Sridharan, einer anderen wichtigen Figur, habe ihn die tamilische Menschenrechtsaktivistin Rajani Thiranagama inspiriert. Zwei Minister jener Zeit, Cyril Mathew und Ranjan Wijeratne, verschmolz er zu Cyril Wijeratne. Aus Premadasa Udugampola, Deputy Inspector General of Police, wurde Major Raja Udugampola, während Gopallaswarmy alias Mahatiya und der "Supremo" Prabhakran kleinere Nebenrollen spielen.
Mit einer kaputten Kamera am Hals wacht der Erzähler auf im Gedränge einer Zwischenwelt, wo er mit anderen Kreaturen ohne Atem redet. Die einen, die zunächst wie Bürokraten wirken, wollen, dass er seine sieben Tage für etwas ganz Bestimmtes nutzt, derweil ein Vertreter des gegnerischen Lagers ihn auf seine Seite ziehen will. Der Weg nach Colombo ist dabei für alle Geister offen. Zeitform hierfür ist das Präsens, während für Rückblenden in eine Welt ohne wahrnehmbare Geister die Vergangenheitsform verwendet wird. Zu Maalis Verdruss kehren seine Erinnerungen nur allmählich zurück.

Dadurch, dass vor allem Tote auf das Geschehen blicken, verschiebt sich auch der Blick beim Lesen. Der Abstand wird vergrößert. Illusionen sind weniger trügerisch. Verfremdung stellt sich ein. Dazu passt, dass Maali in der zweiten Person erzählt. Ohnehin taugt er nicht für jeden als Identifikationsfigur. Zu Lebzeiten arbeitete er für alle, die genug bezahlten, war süchtiger Spieler, trank übermäßig Alkohol, betrog regelmäßig seinen Freund DD. Das Verhältnis zu den eigenen Eltern war gestört. Der Vater erlitt einen Herzstillstand, als er mit ihm telefonierte. Damals war Maali Fotograf, doch seit seinem Tod ist die Linse der Kamera verschlammt und das Gehäuse zerbrochen. Allein dokumentieren will er noch immer, schließlich ist "being a ghost not that different to being a war photographer".
"Evil doesn't know it is evil, like the mad don't know they're insane", ist von Radika auf einer Party zu hören, einer Freundin und Kollegin Jakis, seiner Mitbewohnerin – zwei Figuren, die ausnahmsweise ohne dunkle Seiten sind. Selbst Maali tötete in einem Dorf, wenn auch nicht auf der Ebene des Terrors der Bürgerkriegsparteien. Ein ehemaliger Leibwächter, der nun als Dämon den Minister Cyril Wijeratne schützt, fährt das Geschütz der großen Erzählung auf: "Every civilisation begins with a genocide. It is the rule of the universe."
Kolonialismus, Imperialismus, Waffenhandel, die etwaige Verantwortung Gottes und Fragen der geschlechtlichen, kulturellen und nationalen Identität kommen ebenfalls zur Sprache bis hin zu einem Coming Out, wie in vielen anderen Werken der letzten Jahrzehnte. Karunatilakas Roman ist allerdings literarisch genug, um auch jene zu faszinieren, die nicht speziell nach solchen Themen suchen. "I'm a hypocrite like you, sweetie. All our heads are colonised by Hollywood. We are brainwashed by rock and roll. The people dying up there aren't really our people, are they?" Und nein, hier wird nicht zu allererst auf ausländische Mächte gezeigt. "We have fucked it up. All by ourselves."

"When you fantasied about heaven, you thought you'd be greeted by Elvis or Oscar Wilde. Not by a dead professor with a ledger book. Or a murderd Marxist in a cloak", geht dem Erzähler an einer Stelle durch den Kopf. Wilde bleibt nicht der einzige erwähnte Autor, häufiger werden jedoch Namen englischsprachiger Popmusiker und Filmtitel in das Geschehen eingeflochten. Details wie diese deuten darauf hin, dass die kulturelle Welt für Maali, DD und Jaki nicht nur eine regionale und nationale, sondern auch eine globale ist. 
Erzählt wird locker, eingängig, aber ohne trivial zu werden. Nicht auf jeder Seite ist ein individueller Stil erkennbar. Lokale Atmosphäre entsteht am ehesten durch dutzende singhalesische Einsprengsel, Worte, deren Bedeutung aus dem Kontext erschlossen, erraten oder anderweitig erkundet werden kann: baba für Baby, kolla für Junge, putha für Sohn, malli für Bruder, das vom Marxisten Sena verwendete hamu vermutlich Kameradschaft suggerierend, siri-siri bags für Plastiktüten, aiyo, ein Ausdruck verschiedener Emotionen, Kanatte, der Name des Hauptfriedhofs Colombos und so weiter. Pretas und Rahu sind der hinduistischen Mythologie entnommene Wesen. Ein Yaka ist eine Art Dämon. 
Sowohl als Lebender als auch als Toter neigt der Erzähler zu Vergleichen und Sarkasmus: "On this day, the Beira Lake smells like a powerful deity has squatted over it, emptied its bowels in its waters, and forgotten to flush." Ein anderer Vergleich taucht in verwandter Form gleich zweimal auf: "It is like jumping into a swimming pool, if the water tasted like rust and wasn't wet." (27f) "It's like walking through a swimming pool that smells like dust and doesn't make you wet." (152) Beides wird von Maali nach seinem Tod empfunden. Ähnlich typisch für die Existenz als Geist ist das Weinen ohne Tränen und das Sprechen ohne Lippen zu bewegen. Worte werden direkt in den Kopf gepflanzt. Besonders gut getroffen ist die Diktion, die DDs Vater pflegt: "'This has not. Been certified. By a judge', says Stanley in a accent purchased from Cambridge in the early 1950s." Diese kann zudem als intertextueller Bezug verstanden werden, etwa auf eine gelegentliche Ausdruckweise Leopold Blooms. The Seven Moons of Mali Almeida ist Bürgerkriegs-, Kriminal- und Liebesroman, Groteske, Politsatire, Geister- und Horrorgeschichte mit teils mythischen Figuren. Ein gelungener Genremix. Dass beim Korrekturlesen einige Kleinigkeiten übersehen wurden, ist angesichts des winzigen Verlages namens Sort of Books verzeihlich.

Viktor Pelewin: Buddhas kleiner Finger
 
Zwischen Mythos und Leere
 
Von Darius Amberger, 29. März 2023
  
Чапаев и Пустота, der Titel des russischen Originals, nennt die beiden Hauptfiguren, Tschapajew und Pustota. Wassili Iwanowitsch Tschapajew war Divisionskommandeur der Roten Armee während des Russischen Bürgerkrieges. Пустота bedeutet ins Deutsche übersetzt so viel wie Leere oder Nichtigkeit und in Sanskrit: Shunyata – bekannt aus der Lehre des Mahayana, nach der alle Dinge ohne intrinsische Existenz sind. Leere im Sinne von Shunyata ist ein Thema dieses Werkes, und auf die buddhistische Folie weisen nicht minder manifest der deutsche Titel und der Name des Vereins des Vorwortschreibers.
Vor diesem Hintergrund kann auch der Wechsel der Kapitel wahrgenommen werden. Der Erzähler Pjotr Pustota ist mal Poet und Politkommissar in den Jahren 1918 und 1919 und mal Psychiatriepatient in den 1990ern, wobei er das jeweils fernere Geschehen als Traum erinnert. In der Nachrevolutionszeit wird ihm sogar wiederholt versichert, dass alles Traum und illusorisch sei. Um die Schwierigkeit bei der Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit zu erläutern, erwähnt Tschapajew den von ihm als Kommunist bezeichneten und in die eigene Zeit versetzten Tschuang-tse und dessen Schmetterlingstraum, einen Traum, der bekannt genug sein dürfte, um nicht wenige Leser einen Bezug zur taoistischen Mystik gegen Ende der Zhou-Dynastie herstellen zu lassen. Auch Details des von Pjotr jeweils Erlebten wirken traum- beziehungsweise albtraumhaft: vom magischen Erscheinen eines monströsen Elefanten, über einen Ausritt während des Auslaufens einer zerschossenen Lampe bis hin zu politischem Zeitgeschehen wie das um den nicht namentlich genannten "wieder besoffenen" Jelzin oder in Tschetschenien.
Wie ein Zeitreisender bewegt sich Pjotr durch das Moskau der 1990er und weiß nichts von dem, was nach den 1920ern geschah. Gebäude, Plätze und Geld vergleicht er mit dem, was er aus den alten Zeiten kennt. Laut dem Vorwort eines Herausgebers entstand das Manuskript Anfang der 1920er, was am Ende des Romans durch die Datierung "Kafka-Jurte 1923-1925" gestützt wird. Andererseits kann das darin enthaltende Geschehen aus den 1990ern schwerlich Traum, Halluzination oder sonstiges Erleben aus jenen 1920er sein, da das Pjotr gespritzte Aminasin (Chlorpromazin) und zahlreiche in den Psychiatrie-Kapiteln enthaltene Informationen damals nicht zur Verfügung standen, was den Text in einer Lesart in die Nähe von Science-Fiction rückt.

Zum Mythos wurde Tschapajew dank eines 1923 erschienen gleichnamigen Romans seines zeitweiligen Kommissars Dmitri Furmanow und der Verfilmung durch die Wassiljew-Brüder, für die Furmanows Frau Anna, die 1919 ebenfalls zu jener Division gehörte, das Drehbuch schrieb. Anka, eine Variante von Anna, ist zudem im Film der Name einer MG-Schützin, die ein Liebesverhältnis mit Tschapajews Adjutant Petka eingeht, der real tatsächlich Pjotr hieß. In Pelewins Roman wird Pjotr von Tschapajew mit Petka angesprochen und die ihn dort begleitende MG-Schützin Anna nennt er gewöhnlich Anka. Daneben sind Kommissar Furmanow und die als Soldaten dienenden Weber wieder Teil der Truppe. Sie alle werden völlig anders als von Furmanow und den Wassiljew-Brüdern dargestellt, wenngleich besonders originalgetreu wohl keines dieser Werke war. Neu hinzugekommen ist Grigori Kotowski, um den sich ebenfalls Legenden ranken und der in jenem Jahr eigentlich als Divisionskommandeur in der Ukraine kämpfte, bevor er getötet, neben Lenin als einziger Bolschewik einbalsamiert und mit einem Mausoleum beehrt wurde. Im Verlauf des Romans tauchen weitere auf historischen Personen basierende Figuren auf: der "Schwarze Baron" (J)Ungern von Sternberg und Buddha Bogdo-Gegen-Tutuchtu (Bogd Khan) sowie, weit schwächer ausgeprägt, ein Herr Kawabata und etwas um die Ecke Timur Timurowitsch Kanaschnikow.
Die aus der Sowjetzeit bekannten Figuren erleben wir in Rollen, die sie mehr oder weniger verfremdet erscheinen lassen. Kritisch hinterfragt werden parallel zu jenen alten Mythen aber ebenso die Macht der "neuen Russen", Versuche einer "alchimistischen Ehe" mit dem Westen und eine von Kawabata nahegelegte mit dem Osten, auch wenn hier nicht nur bei Tschapajew die Sympathien buddhistischen Ideen gelten und somit weder Russland noch dem Westen.
Die bewusste Hinwendung zu östlichen Kulturen, deren Einflüsse im russischen Kernland bereits seit den Folgen des Mongolensturms vorhanden waren, begann bei russischen Eliten spätestens 1810 mit Uwarows "Projet d’une academie asiatique", und der erste buddhistische Tempel in Europa entstand nicht zufällig 1915 in Sankt Petersburg. Auch Pelewin ergänzt die in Russland traditionsreichere Auseinandersetzung mit westlicher Kultur um eine mit einer östlichen, speziell mit der buddhistischen oder noch genauer: Mahayana. Daher die Nähe zum Zen.

Im Roman wird nach dem dritten Kapitel die Bürgerkriegshandlung von Moskau in die in oben genanntem Kontext symbolträchtigere Ural-Region verlegt, wo Asien an Europa grenzt und der historische Tschapajew seine Division zu Siegen führte, bevor er dort erschossen wurde, wenngleich der Name der fiktiven Stadt in den Bergen des Romans, Altai-Widnjansk, auf das an der westlichen Grenze der Mongolei gelegene Altaigebirge hindeutet, eine Region, wo der historische dem Buddhismus zugeneigte und mongolisch sprechende deutschbaltische Baron Ungern von Sternberg zuletzt als General der Weißen Armee kämpfte. Im vorliegenden Roman begegnet ihm Tschapajew beinahe freundschaftlich.
Als Chiffre zu verstehen ist die Innere Mongolei, wo laut dem Vorwort das Romanmanuskript entstand. Der Baron benennt damit einen Ort, wohin gelangt, "der den Thron im Nirgendwo endlich bestiegen hat", und ergänzt auf Pjotrs Frage, wo dieser Ort denn liege: "Eben nirgendwo. Im geographischen Sinne lässt er sich an keiner Stelle festmachen. Jedenfalls heißt die Innere Mongolei nicht deshalb so, weil sie sich im Inneren der Mongolei befände. [...] Dort gibt es nichts, was, wie man gemeinhin sagt, wirklich existiert. Alles hängt davon ab, wer hinschaut." Wenig später sagt er noch: "Die Welt, in der wir leben, ist schlicht eine kollektive Visualisierung, die anzustellen wir von Geburt an gelernt haben. Es ist im Grunde das einzige, was von Generation zu Generation überliefert wird."
In Buddhas kleinem Finger treten Jungern von Sternberg und Tschapajew wie buddhistische Lehrmeister auf.

Ähnlich philosophisch geht es in den Psychiatrie-Kapiteln zu, sowohl in den Gesprächen mit Professor Kanaschnikow als auch im Innenleben von Pjotrs Mitpatienten, in das er im Rahmen von Gruppensitzungen Einblick erhält. Da ist im zweiten Kapitel Maria, queer und Russland im Einzelnen für hässlich und im Ganzen für unbegreiflich schön haltend, die (oder der) als Anhängsel am Fluggerät des von ihr geliebten Schwarzenegger den Halt verliert. Im sechsten Kapitel folgt Serdjuk mit seiner japanischen Erfahrung und im achten Wolodin, der auf Handlanger eines kriminellen Milieus blicken lässt. "Wir sind im großen Dschungel die kleine Gesundheitspolizei." Bemerkenswert ist beispielsweise, wenn Wolodin dort mit zwei Kumpanen über den "inneren Staatsanwalt", den "inneren Verteidiger", "innere Bullen" und "innere Lubjanka" plaudert oder Übereinstimmungen zwischen Straflagern und christlichem Jenseits beschrieben werden: 
"Unser Land ist immer ein großer GULAG gewesen, und das wird so bleiben. Und der liebe Gott sieht entsprechend aus [...] Wenn's nun in Wirklichkeit alles ganz anders wäre? Der liebe Gott ist nicht deswegen eine Art Gangsterboss mit Suchscheinwerfern, weil wir lebenslang nicht aus dem GULAG rausgekommen sind, sondern umgekehrt: Weil wir uns einen Gefängnisdirektor mit Alarmsirene als lieben Gott ausgesucht haben, sind wir in der Zone gelandet? [...] Zu unserer Zeit hatten sie einen anderen Flitz und wollten das Paradies auf Erden bauen. Haben sie ja dann auch. Streng nach Zeichnung! Und wie sie mitten dabei waren, haben sie gemerkt: Paradies ohne Hölle geht nicht."

Ein paar Dutzend große Namen werden eingestreut, die zum Teil eine über die Nennung hinausgehende Rolle erkennen lassen. Alexander Blok, Schopenhauer, Swedenborg und C. G. Jung sind darunter. Die wichtigste Kulturtechnologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts sei die kommerzielle Aneignung fremder Gräber, und Leichenfledderei sei das am höchsten geachtete Genre, da direktes Pendant zur Erdölförderung, sagt ein Schriftsteller in einem späteren Roman Pelewins und auch dieser hier ist voller intertextueller und anderer Anspielungen. An Deutungsmöglichkeiten mangelt es nicht. Nehmen wir den Oktoberstern-Orden, der von Tschapajew und Jungern getragen wird. Soll er an den Orden der Oktoberrevolution erinnern? Wird mit ihm parodiert? Zuweilen werden Paradoxa und andere Widersprüche überrascht zur Kenntnis genommen und alsbald akzeptiert. Sprachlich fällt die Vielfalt an Hyperbeln und bildlichen Vergleichen auf, häufig meisterhaft gelungen, wobei die Übertreibungen mitunter bis zur Satire reichen. Der Humor, der selten einer der Figuren zuzuordnen und wohl der des Autors ist, hat etwas Beiläufiges, etwa wenn eine "Zigarette so schnell herunterbrannte wie eine Bickford-Zündschnur und einen leichten Salpetergeschmack hinterließ" oder bei der Gruppensitzung mit Maria: "Dieses Auto war nur vage und verschwommen zu erkennen, da jene vielen, in deren Seelen Maria blicken konnte, sich hier die verschiedensten Marken vorstellten."
Auch die Übersetzung von Andreas Tretner wirkt nirgendwo verbissen. An einem mythisch angehauchten Ort spricht ein Kosak zu Pjotr: "Du bist ein gebildeter Mann, du weißt wahrscheinlich, dass es in Indien mal so ein altes Buch gab: 'Uups-kann-nich-schaden' oder so." Im russischem Original steht "Ебанишада" und meint Упанишадa.
Am Ende taucht der im vorangestellten Motto erwähnte Strom wieder auf, als "das pure Glück", derweil zu denken gibt, wer aus welchen Gründen die Station Kanaschnikows verlassen durfte und wer dort bleiben muss.

Osamu Dazai: No Longer Human
 
What's the antonym of crime?
 
Von Darius Amberger, 23. Februar 2023
  
Über Dazais Leben wurde ähnlich viel geschrieben wie über sein literarisches Werk, weshalb der semi-autobiographische Unterbau von No Longer Human schwer zu übersehen ist. Der Roman besteht im Hauptteil aus drei "Notebooks", in denen Yozo Oba über sein Werdegang bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr erzählt. Bemerkenswert ist bereits, wie der Abstand zwischen Osamu Dazai und Yozo Oba durch Prolog und Epilog eines Herausgebers vergrößert wird, zumal dieser eine deutliche Abneigung gegenüber dem Gelesenen und die ihm ebenfalls übergebenen fotografischen Abbildungen des Erzählers zeigt. Dieser Herausgeber ist mit seinem Unbehagen nicht allein: Auch Yozo sieht sich nicht als "human being".

Daran gezweifelt, ein menschliches Wesen in dem von anderen verstandenen Sinn zu sein, hat Yozo schon als Kind. Er "always shook with fright before human being" und schreibt überdies: "the more I feared the more I was liked, and the more I was liked the more I feared them". Zu den naheliegenden intertextuellen Bezügen beim Thema Menschsein gehören die zu Dostojewski, insbesondere zu dessen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und zu Schuld und Sühne. Das letztgenannte Werk wird im zweiten Teil des dritten Notizbuchs explizit erwähnt. Ins Japanische wurde der russische Originaltitel Преступление и наказание in 罪と罰 übersetzt, Verbrechen (aber auch Sünde) und Strafe. Dort treibt auch Raskolnikow die Frage nach dem Menschsein um, nur spricht dieser den anderen das Menschsein ab. Beide sehen sich gezwungen zu einer Pfandleihe zu gehen, doch während Raskolnikow zu mörderischen Taten schreitet, neigt Yuzo nicht dazu, sich aufzulehnen. Er vermag noch nicht mal Nein zu sagen, ebenso wie seine Frauen, deren Kleider er verpfändet. In beiden Fällen sehen die Hauptfiguren den größten Teil der Schuld bei sich, und zu den Opfern zählt jeweils die unschuldigste aller Personen.
Als kleiner Junge beobachtet Yozo, wie das Leben der anderen voller Heuchelei ist, nicht zuletzt bei jenen, die sich für "human beings" halten. Er selbst nutzt alsbald Clownerien, um die eigene Unsicherheit und das Gefühl der Fremdheit zu verbergen, stets im Wissen, dass er zumeist gemocht, aber nicht respektiert wird. Später nutzt er zur Überwindung seiner Ängste Alkohol und Morphium, in zunehmenden Exzessen, was auf Kosten von Studium und Arbeit geht. Auf eine japanische Redewendung anspielend, erwähnt er eine "wound of a guilty conscience [...] the wound was gradually become dearer to me than my own flesh and blood, and I have thought its pain to be the emotion of the wound as it lived or even its murmur of affection."

Die Bekenntnisse sind sachlich und zugleich stilistisch reizvoll formuliert. Nichts wirkt wie rasch dahingeschrieben. Kein Satz ist ohne Gewicht. Vergleiche und Übertreibungen sind wohlgewählt. Mitunter sind stehen Worte konträr zu dem, was normalerweise zu erwarten wäre: "Is trustfulness a sin, I wonder?" Dies betrifft auch Konsequenzen: "My uneasiness over having become an addict actually made me seek more of the drug." Allein das Antonym zu Verbrechen beziehungsweise Sünde (im Original 罪, wobei der eine oder andere Leser erneut an Dostojewskis 罪と罰 erinnert wird) suchte Yozo vergeblich.

Dem japanischen Titel 人間失格, als Mensch disqualifiziert, kommt der englische mit No Longer Human wesentlich näher als der deutsche mit Gezeichnet. Neben der Übersetzung von Donald Keene ist aber auch die von Jürgen Stalph empfehlenswert (sofern sie erhältlich ist), anders als die von Friedrich Orff, von welcher dringend abzuraten ist.

Witold Gombrowicz: Ferdydurke
 
Wider die gemachte Fresse
 
Von Darius Amberger, 23. August 2021
  
"Wie beneide ich jene schon von der Wiege an so erhabenen und offensichtlich zu Überlegenheit vorbestimmter Literaten, deren Seele immerzu nach aufwärts funktionierte, wie mit der Ahle am Hintern gekitzelt – jene gewichtigen Schriftsteller, deren Seele sich ernst nahm, und die mit angeborener Leichtigkeit in großer Schaffensqual im Bereich derart hehrer, wolkenhoher und ein für allemal geheiligter Begriffe operierten, dass Gott selber ihnen beinahe etwa Gewöhnliches und wenig Edles war." 
Satirisch zugespitzt und dennoch einen Wunsch zum Ausdruck bringend spricht so am Anfang der Ich-Erzähler Józio. Wie sein Autor hat der 30-jährige ein Buch mit dem Titel Tagebuch aus der Epoche der Reifung veröffentlicht, das ein Verhängnis nach sich zog. Als Reaktion auf einen im Morgengrauen aufgetauchten, ihm wie ein Kompromiss erscheinenden Doppelgänger, beginnt er die ersten Seiten eines neuen Werks zu schreiben, das frei von Aufgedrängtem und nur mit ihm selbst identisch sein soll, als der Lehrer Pimko klingelt und das Haus betritt. Während der Lehrer an Statur gewinnt, wird Józio auf Diminutive reduziert, gegen die er wehrlos ist. Er lässt sich in eine Schule bringen, wo man ihm "einen Popo" fabriziert. Er wird zum Schulbesuch, zum Schuljungen zurückversetzt. Eine "gemachte Fresse" hat dort jeder, mal von Schülern aus Protest geformt und mal von außen auferlegt, wobei Letzteres das Ziel der Bildungsanstalt ist. Als Richtschnur der Erziehung dienen Traditionen, gleichgesetzt mit Reife und Vollkommenheit, und mit Mickewicz, Słowacki und Norwid werden drei Romantiker neben dem für seine Sonette bekannten Kasprowicz als Lehrinhalt genannt – ein Erbe gegen das sich der Erzähler wie das Gros der Schüler sträubt.
Neben und nach mit der Schule erlebt Józio Konfrontationen mit zwei weiteren Institutionen der Gesellschaft: der Kleinfamilie des modernen Bürgertums und der aristokratischen Familie mit Gutshof inklusive Dienerschaft. Obwohl die Methoden, Józio klein zu halten, einander gleichen, entzieht er sich allmählich jener fremdbestimmten Formung und schafft es, deren Mängel vorzuführen. Am Ende jeder der drei Abschnitte kommt es zu einem Kampf, bei dem das Establishment verliert, und als Józio nach einem solchen Handgemenge flieht, begleitet ihn der Schüler Mjentus, der sich nach der Natürlichkeit von Bauernbengeln sehnt, "um sich zu ver . . . brüdern".

Die Konflikte resultieren aus Personen, die – wie die Schule und Familienformen – für die Geschichte exemplarisch sind. Dem "ordinären Flegel" Mjentus steht der Musterschüler Siphon ähnlich konfrontativ gegenüber wie die "reife" Oberschülerin Sutka dem "unreifen" Józio. Erstaunlich ist die Leichtigkeit (ganz ohne Spuren großer Schaffensqual), mit der hier erzählt wird, mal als Parodie, mal nur mit Ironie, mal absurd und nicht selten höchst grotesk, und dahinter lauert oft Satire. Übertrieben wird zumeist zum Kindlichen, zum arg Naiven und mitunter zum Absurden ("ein Bein spazierte schon allein im Zimmer"). Gerade die Alten und vorgeblich Reifen verweigern sich der Wirklichkeit und klammern sich an Ideale, etwa wenn Pimko ausruft: "Aber seid nur unbesorgt: selbst der größte Unfug, und sei er noch so derb, vermag nicht meinen tiefsten Glauben zu erschüttern, dass ihr im Grund bescheiden und unschuldig seid."
Sein Humor ist ein facettenreicher, und mannigfaltig sind auch die Deutungsmöglichkeiten des Geschehens, wenngleich der Erzähler zwecks Erhellung seiner Absicht nach dem ersten Drittel des Romans ein "Vorwort Philidor mit Kind durchsetzt" eingeschoben hat. Die ewigen Unreife bezeichnet er darin als unser Lebenselement. Auch die nachfolgende allegorische Geschichte "Philidor mit Kind durchsetzt" eines zweiten Ich-Erzählers (Anton Swistak) kann als Paratext verstanden werden und ebenso die nach dem zweiten Abschnitt eingeschobene "Philbert mit Kind durchsetzt" nebst deren Vorwort, obwohl beide Kurzgeschichten vor der Arbeit am Roman geschrieben wurden.

"Nun beruht aber der Wert der reinen Kunst darauf, dass sie Schemata zerschlägt", schrieb Gombrowicz in sein Tagebuch, und dass er in denselben Aufzeichnungen Sigmund Freud einen nicht geringen Stellenwert beimisst, bestätigt einen bei der Romanlektüre aufkommenden Verdacht. Vieles lässt sich psychoanalytisch deuten, wie der Prozess der Regression. Anderes ist mit Absicht rätselhaft und provokant gehalten wie der Titel dieses Werkes und auch dessen letzten beiden Zeilen, die laut der Autoren-Witwe von einer Hausangestellten der landadligen Gombrowicz' stammen.
Die revidierte deutsche Ausgabe von 1983 ist längst aus dem Verlagsprogramm entfernt, jedoch noch immer neu und eingeschweißt erhältlich. Mit foliertem Schutzumschlag und textilem Einbandstoff, was heute selten ist, wirkt es durchaus höherwertig, als gehörte es zu jenen hehren Formen, gegen die im Buch gemuckt wird. Könnte etwas die Lektüre mindern? Selbst Mängel wie die Fülle von Erklärungen entschuldigt das Konzept.

Sadeq Hedayat: Die blinde Eule
 
Schatten an der Wand
 
Von Darius Amberger, 10. August 2021
  
Schon früh skizziert er das zentrale Bildmotiv, hier zitiert aus der Übersetzung Bahman Nirumands, wie auch sonst, wenn nicht anders angemerkt: "Ich malte eine Zypresse, immer dieselbe Zypresse, darunter einen buckligen alten Mann, der einem indischen Yogi glich, eingehüllt in einen weiten Umhang, einen Schal um den Kopf gebunden. Er hockte auf dem Boden und hielt mit einem Ausdruck des Erstaunens den Zeigefinger seiner linken Hand an die Lippen. Ihm gegenüber stand ein Mädchen mit einem langen, schwarzen Kleid; es beugte sich vor, um dem Alten eine Windenblüte zu reichen. Denn zwischen ihnen floss ein schmaler Bach." 
Gekürzt und leicht gewandelt tauchen Teile dieses Bildes immer wieder im Bericht des namenlosen Ich-Erzählers auf. Mal entdeckt er die Zypresse mit dem Mädchen und dem Mann jenseits einer Wand durch eine Luke, die kurz darauf verschwunden ist, mal lässt er jenes Mädchen in sein Zimmer, wo er sie als Tote malt. Er findet ihr Gesicht auf einer Emaillevase aus dem alten Rey (Rhages) und sieht nachfolgend auch nahe jener Stadt eine Zypresse und ein Mädchen in einem schwarzen Kleid. Er erinnert sich, dass seine spätere Frau als Kind ebenfalls ein solches Kleid beim Spielen neben einem Bach und einer Zypresse trug, und als sich der kleine Bruder seiner Frau den linken Zeigefinger auf die Lippen hält, küsst der Erzähler diesen Jungen, der teils dem Vater, aber noch stärker seiner Schwester ähnelt, auf den Mund. Seine Frau zeigt als Erwachsene mitunter Züge jenes Mädchens und an einer Stelle assoziiert er mit ihm auch seine Mutter Bugam Dasi, die einst in einem Tempel tanzte.
Noch bemerkenswerter sind die Wandlungen des alten Mannes, der schon draußen vor der Luke akustisch in Erscheinung tritt, mit einem Gelächter "so trocken und widerlich, dass mir die Haare zu Berge standen [...] wie das Echo eines Gelächters aus einem hohlen Raum". Zweimal tritt er als Leichenwagenfahrer in Erscheinung, mehrmals als Trödler vor einem Haus der Nachbarschaft, gleichfalls wiederholt als Vater seiner Frau, einmal ohne jenes Lachen und daher nur angedeutet als Familienarzt, später als Lachen hinter einer Tür oder als der Erzähler selbst, Fratzen schneidend vor dem Spiegel mit eben jenem Lachen. Zunächst erscheint es dem Erzähler, dass die Figuren als Spiegelbilder in ihm leben, doch gegen Ende hält er sie für seine Schatten und er geht noch weiter: "Ich sah aus wie – nein, ich war der alte Trödler."
Was im Rausch, im Traum, im Albtraum oder ganz real gesehen wird, lässt sich nicht immer unterscheiden. Besonders gelungen ist eine Erwähnung jenes Bildmotivs im zweiten Teil, wo der Erzähler schreibt: "Mein Leben kommt mir so unnatürlich, so unerklärlich, so unglaublich vor wie die Zeichnung auf dem Federkasten, den ich gerade benutze. Vermutlich hat ein launischer Irrer diesen Federkasten bemalt. Wenn ich mir dieses Bild ansehe, kommt es mir immer wieder bekannt vor. Vielleicht ist es eben dieses Motiv, das mich zum Schreiben zwingt." Worauf eine Beschreibung der uns bereits vertrauten Zeichnung folgt.

Opium hat dem Leib des Erzählers "die Seele der Pflanzen und ihre kaum wahrnehmbaren Bewegungen eingehaucht", was seine passive Haltung erklären mag. Bekanntermaßen wirkt Schlafmohnsaft bewusstseinsverändernd und wurde in der Psychiatrie bis in die 1960er zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Die blinde Eule wurde 1936 als Privatdruck veröffentlicht. Als realer Hintergrund des Albtraumhaften sind aus religiösen Traditionen resultierende Pflichten und Heuchelei erkennbar, und die Zeit der Rahmenhandlung könnte die damalige Gegenwart sein. Gleich am Anfang wird der Wunsch nach Vergessen als Thema angeschlagen. Rauschartige Bilder prägen die Geschichte, unterbrochen von einem – sofern man dem Erzähler glaubt – realer anmutenden Abschnitt mit Lebenserinnerungen, bis er das Haus verlässt, durch ein irreale Landschaft geht und sich an die Zeit der alten Stadt Rey erinnert fühlt.
Zum Saft des Schlafmohns passt der stets präsente Tod und zu diesem wiederum die Eule, die als Totenvogel gilt und deren Form am Ende vom Schatten des Erzählers angenommen wird. Viele seiner Bilder beeindrucken durch ihre Vielschichtigkeit, wenngleich sie je nach Übersetzung variieren können. So reicht im zentralen, offenbar aus Indien stammenden Bildmotiv das Mädchen jenem alten Mann in der Übersetzung Gerd Hennigers eine Winde und in der Bahman Nirumands eine Windenblüte, während in Iraj Bashiris Übersetzung ins Englische von "a lily", einer Lilie die Rede ist und im persischen Original dort نیلوفر steht, was mein Wörterbuch mit Lotus oder etwas Lotusähnlichem übersetzt. Die Symbolik von Windenblüte, Lilie und dem in Indien heiligen Lotos unterscheidet sich naturgemäß. Als wichtigstes Pflanzensymbol im Buddhismus versinnbildlicht Lotos den Weg zur Erleuchtung; trotz der Welt des Sumpfes, aus der er sich erhebt, gedeiht er zu einer Schönheit, die alles von sich abperlen lässt. Eine diesem ikonografisch verwandte Verwendung erfährt in westlichen Kulturen die Lilie, wo sie Reinheit und Jungfräulichkeit verkörpert, wohingegen die Windenblüte für vergängliche Schönheit steht. Die Zypresse, allgemein als Symbol der Unsterblichkeit bekannt, ist den Anhängern Zarathustras wegen ihrer flammenähnlichen Form heilig und Hedayat besuchte 1936 eine zoroastrische Gemeinde, wo er Mittelpersisch lernte.

Ähnlich wie mit klassischen Bildmotiven geht er mit jüngeren Literaturzitaten um, wie dem wiederholten hohlräumigen Gelächter des alten Mannes: "ein heftiges, unheimliches Lachen, das einem die Haare zu Berge steigen ließ" (diesmal in der Übersetzung Hennigers), das wie anderes an Poe erinnert. Im Detail umfassender bedient er sich bei Rilke, etwa wenn er den Erzähler seine Wände so beschreiben lässt wie Rilke Malte Laurids Brigge die an Nachbarhäusern verbliebenen Wände abgerissener Behausungen: "Der Stahlnagel im Mauerwerk hat meine Hängematte und die meiner Frau getragen, vielleicht später auch das Gewicht anderer Kinder. Etwas weiter unten ist der Gips abgeblättert, und auf dem bloßgelegten Mauerstreifen spüre ich den Geruch von Dingen und Wesen, die vor langer Zeit hier waren. Keinem Luftzug ist es bisher gelungen, diesen hartnäckigen, schweren, lastenden Geruch zu vertreiben. Geruch von Schweiß, von alten Krankheiten, Gerüche von Atem, von Füßen, von Harn, von ranziger Butter, verfaulten Strohmatten, verbrannter Rührkacke, Gerüche aus dem Zimmer eines gerade erwachsenen Knaben, Ausdünstungen von der Straße", so Hedayat in der Übersetzung Hennigers, während zuvor Rilke schrieb: "Am unvergesslichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren [...] es schwankte in den abgerissenen Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden [...] stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stickige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund der Gasse".
Auch die Betrachtungen Brigges über Vielzahl, Verschleiß und Wechsel von Gesichtern greift er auf. Bei Rilke steht auf der dritten Seite: "Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute [...] Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. [...] Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. [...] Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum." Und bei Hedayat: "Denn alles geschieht, als habe jedes Individuum mehrere Masken. Manche verwenden immer die gleiche: notwendigerweise wird sie schmutzig und vergilbt. Das sind die Sparsamen. Andere bewahren die ihrigen für ihre Nachkommen auf, wieder andere wechseln sie ständig, doch wenn das Alter vor der Tür steht, begreifen sie, dass sie bei der letzten angelangt sind und dass diese schnell verfällt: nun kommt ihr wahres Gesicht zum Vorschein."
In der dritten Parallele geht es jeweils um Ängste. Rilke ließ Brigge schreiben: "Ich liege in meinem Bett [...] Die Angst, dass ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, dass dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, dass dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde". Und bei Hedayat: "Wenn ich in meinem feuchten, nach Schweiß riechendem Bett lag [...] wachten [...] alle vergessenen Ängste von neuem in mir auf; Angst davor, dass sich die Federn meines Kopfkissens in Dolchklingen verwandelten; dass die Knöpfe meiner Jacke so groß würden wie Mühlräder; dass das Brot wie Glas zerbrechen würde".
Ähnlichkeiten wie diese wurden im Gefolge zunehmender Rezeption nach Hedayats Suizid bekannt, und im Gegensatz zu anderen Bezügen lässt das von Rilke Übernommene während der Lektüre eher an Plagiate als an Intertextuelles denken, was den Gesamteindruck entsprechend schmälert. Gleichwohl sind die zitierten Passagen aus dem Werk Rilkes zu bekannt und von Hedayat zu wenig umgestaltet, um unlautere Absichten zu vermuten. Als Hommage wirkt es jedoch zu wunderlich. Gab Hedayat sich gerne ungeniert?
Daneben schimmern etliche Bezüge zu weiteren Werken, Theorien und Kunstrichtungen auf eine Weise durch, dass das Entdecken Freude macht. Andere vom Erzähler verwendete Stilmittel sind Vergleiche, Personifikationen und Übertreibungen. Wiederholungen von Szenen und Motiven sorgen für Musikalität, zu der – wo dies geschieht, als wäre das zuvor Erwähnte längst vergessen – das Gefühl einer Entrückung kommt.

Von den drei bislang in deutschsprachigen Verlagen erschienen Übersetzungen erfolgten die von Henniger (1962) aus dem Französischen und die von Moayyed/Hegel/Riemerschmidt (1960) sowie die von Nirumand (1990) aus dem persischen Original. Empfehlenswert ist die 1990 bei Eichborn in der Anderen Bibliothek erschienene Ausgabe, die neben wahrscheinlich größerer Genauigkeit – beispielsweise wird hier der von Henniger verschwiegene Name der Mutter erwähnt – und ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung als Beigabe zum Kurzroman neun zusätzliche Prosatexte Hedayats enthält.

Julien Gracq: Das Ufer der Syrten
 
Vom Nebel und vom Höllenschwefel
 
Von Darius Amberger, 24. Juli 2021
  
Von einem Staat im vorgerückten Alter wird uns hier erzählt und dies in einer Sprache, die ihrem Gegenstand höchst angemessen ist. Die ersten Seiten lesen sich, als wenn sie nicht von 1951, sondern hundert Jahre älter wären. Elaborierte Satzgefüge führen in ein dem Leser fremdes und doch irgendwie vertrautes Land. Orsenna ist sein nie zuvor gehörter Name, während die Regierungsform sowie "die märchenhaften Gewinne orientalischen Handels" an die Republik Venedig denken lassen. Von einem Senat ist die Rede und auch einer Signoria. Die Bewohner tragen genauso italienische Namen wie die Insel Vezzano und die Stadt Maremma, und das verschwörerische Fürstenhaus der Aldobrandi erinnert an den venezianischen Adelsaufstand unter Baiamonte Tiepolo, den man ebenfalls in die Verbannung schickte, wonach der Rat der Zehn geschaffen wurde, mit Funktionen, die denen des orsennischen Sicherheitsrates entsprechen. Im Süden Orsennas befinden sich die Syrten, das Meer und dahinter der Erbfeind Farghestan, dessen Suffix auf ein persisch- oder turksprachiges Volk anspielt, wozu der altbekannt klingende Name seiner Festungsstadt Rhages passt, die sich im Roman jedoch am Meer befindet. 
Anderes hingegen weicht vom Bekannten ab, sowohl historisch als auch geographisch, was eine Vagheit des Erzählten steigert, die im Kern vom fehlenden Wissen über Farghestan und die Absichten der Signoria ausgeht, unterstützt durch einen Ich-Erzähler Aldo, dessen Blickfeld recht begrenzt ist, und landschaftlich ergänzt durch Nebel, Dünste, Sümpfe und versandende Häfen. Was dem Vagen eine Richtung gibt und somit für Spannung sorgt, ist ein Verfallsprozess, versinnbildlicht in Form einer maroden Hafenfestung mit einer ebensolchen Flotte, zu der Aldo sich beordern lässt. Was vom Wohlstand übrig blieb, konzentriert sich in der Hauptstadt, während im Süden Fäulnis, Ratten und Ruinen auch optisch greifbar sind und es in abtrünnigen Milieus sinnlich übertragen nach Höllenschwefel riecht. Das Leben in den Syrten ist zwar durch Langsamkeit geprägt, aber von Unheil schwanger, wie die "Nächte mit ihrer zu schwülen Milde, die unaufhörlich ein Gewitter brüten, das nicht reifen wollte", ein Unheil, das von Aldo als Erzähler mehrmals angedeutet wird.

Gerüchte mit Bezug auf Farghestan breiten sich im Lande aus, ohne dass die Obrigkeit versucht herauszufinden, was im Feindesland geschieht, anders als die Gegenseite. Friedlich und verträumt verläuft das Leben in den Syrten, doch nicht wenige spüren einen Wandel, den sie wohl auch wünschen, so der Viehzüchter Carlo und die Prinzessin Vanessa Aldobrandi, eine "dämonische Schönheit" mit "Erinnyengesicht". Besonders in Maremma ist zu hören, dass dort etwas schwele, wofür allerlei zum Zündstoff werde, sogar ein Dementi. Dieser Wandel bekommt schicksalhafte Züge und allein der Kommandant des Stützpunkts, Kapitän Marino, stemmt sich bis zum Schluss dagegen, sei es aus Einfalt oder mit Bedacht.
Zu jener Vagheit einer zunehmenden Gefährdung tragen nicht zuletzt die häufigen Metaphern und bildhaften Vergleiche bei. Eine Stimme greift wie eine Hand, sein Mitleid weckend, eine andere gleicht einer gezogenen Klinge und ein Kinn wirft einen Raubtierschatten. Schreie von Meeresvögel kommen "wie aus durchschnittenen Kehlen" und der Mund der Geliebten lebt "das strotzende Leben einer fleischfressenden Pflanze". Vanessa kam in den Süden, um sich "zurechtzukneten", sich "hart wie einen Stein machen, ja, wie einen Stein, den man den Leuten ins Gesicht wirft". Manches weist ins Transzendente, etwa wenn der Erzähler schreibt: "Orsenna war wie ein Mensch, der spürt, dass er langsam durch den Spiegel hindurch auf die andere Seite gleitet." Das Finden von Vergleichen und Metaphern mag an sich einfach sein, doch ist hier der Autor – im Gegensatz zu vielen anderen – erstaunlich ziel- und stilsicher am Werk, und er ist sich offenbar bewusst, dass er, was er uns schildert, nicht mit großen Namen schmücken muss. 
Elf der zwölf Kapitel tragen schlichte, neutral-beschreibende Überschriften. Allein das vierte ist gänzlich ohne Titel. Bis kurz vor Ende des zweiten Kapitels (Das Kartenzimmer) wird sich auf summarisches Erzählen und das detaillierte Beschreiben von Landschaften und anderen Örtlichkeiten beschränkt, wobei die erzeugte Atmosphäre dem sich entwickelnden Thema eines zugrunde gehenden Staatswesens entspricht. Nur selten findet sich ein Anflug von Humor, wie dort wo Aldo zu Vanessa sagt: "Gehen wir! Man soll nicht sagen, dass ich einem verwöhnten Kinde etwas verweigert hätte!" Erst im letzten Drittel gewinnt die Handlung an Dynamik.

Julien Gracq war Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte und unterrichtete als solcher trotz des Romanerfolges und der von ihm zurückgewiesenen Verleihung des Prix Goncourt 1951 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1970. Als möglicher Vorläufer für Das Ufer der Syrten wurde Buzzatis 1949 in französischer Übersetzung erschienene Tatarenwüste erwähnt, wo ebenfalls die Hauptfigur in einem tristen Grenzstützpunkt mit ominösen Feinden landet, aber die sonstige Handlung, die Atmosphäre und die Sprache sehr verschieden sind. Auch Vergleiche mit Jüngers einflussreichem Marmorklippen-Roman, den Gracq "un livre emblématique" nannte, braucht er nicht zu scheuen, zumal er an Tiefe und vor allem sprachlich mehr zu bieten hat.

Ricardo Piglia: Künstliche Atmung
 
Das Unsagbare
 
Von Darius Amberger, 7. Juli 2021
  
Über die Rolle, die der Titel dieses Werkes spielt, lässt sich so trefflich spekulieren, dass ich dazu schweige. Der komplette Name seines Autors ist Ricardo Emilio Piglia Renzi, inklusive des Mädchennamens seiner Mutter, und ein Emilio Renzi tritt auch als Erzähler auf, der im ersten der vier Kapitel einen Briefwechsel mit seinem Onkel Marcelo Maggi wiedergibt, über dessen Ehe mit Esperancita Ossorio er einen Roman geschrieben hat. Sein Interesse für das Leben seines Onkels hat ähnlich detektivische Züge wie dessen Recherchen über das Leben Enrique Ossorios, Esperancitas Urgroßvater, der 130 Jahre zuvor als Exilant einen utopischen Briefroman zu schreiben plante, für den er jenes Jahr visierte, in dem die aktuelle Handlung spielt.
Piglia versteht sich auf das Verschachteln einer Vielzahl von Geschichten, wobei mehrmals die Erzählform und die Perspektive wechseln. Nach dem Kapitel mit den Briefen gibt Renzi in direkter Rede Monologe des Ex-Senator und Vaters Esperancitas Dr. Luciano Ossorio wieder, den zu besuchen er zuvor angekündigt hat, worauf erneut ein Kapitel mit Briefen folgt, anfangs unter Marcelos Namen und autobiografische Aufzeichnungen Enrique Ossorios enthaltend, später mutmaßlich verschlüsselt, jeweils gelesen von Arocena, der sie schließlich auch entziffert oder dies zumindest glaubt. Als Erzähler des vierten Kapitels, das zugleich der zweite Teil des Buches ist, erleben wir den Exil-Polen Vladimir Tardewski, der sich als aus Zitaten bestehend beschreibt und sich mit Piglias Alter Ego Renzi trifft. Tardewski war wie einst Gombrowicz in einer argentinischen Filiale einer polnischen Bank beschäftigt, ist ebenfalls ein passionierter Schachspieler, lebt aber anders als sein Landsmann im Argentinien des Jahres 1979. Gombrowicz selbst wird von Tardewski im Gespräch erwähnt und Renzi nennt Gombrowicz-Borges ein typisches Paar der 1940er. Überhaupt ist dieser zweiten Teil stark essayistisch gefärbt, etwa wenn es um Heidegger, Wittgenstein, die Intertextualität bei Borges oder um vermeintliche Konsequenzen von Descartes' Discours de la methode geht. 
Wenn Renzi seine Theorien zu Jorge Luis Borges und Roberto Arlt ausbreitet, sind es auch die des Autors, und so wie Renzi das Kreuzen der Linien der gelehrten und der Gaucho-Literatur im Werk von Borges beschreibt, führt Piglia in Künstliche Atmung das Erbe Borges' mit dem des ihm politisch näher stehenden Arlt zusammen, wobei die Bezüge zum Erstgenannten deutlich überwiegen. Nähe zu Borges ist beispielsweise zu spüren, wo ein Briefschreiber das reale Erlebnis einer Diebstahlszene berichtet, die er kurz zuvor in Bellows Mr. Sammlers Planet gelesen hat, und sich Ähnliches nach anderen Lektüren wiederholt, wohingegen das Stimmengewirr am Tresen einer Kneipe, die Renzi zwecks Zigarettenkauf betritt, an Arlt erinnert, zumal ein Gespräch über diesen Autor erst acht Seiten zuvor beendet worden war.

Piglia schrieb und veröffentlichte seinen Romanerstling während der Militärdiktatur unter Videla, was die Funktion des fremde Briefe lesenden Arocena offensichtlich werden lässt, und auch die Frage danach, "wie man über das Unsagbare sprechen soll", weist somit über den unmittelbar erzählten Kontext hinaus. Die in den Briefen des dritten Kapitels enthaltenen Aufzeichnungen Enrique Ossorios datieren in der Herrschaftszeit des Diktator Rosas Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte Argentiniens hat nicht nur ihre Parallelen, sondern ist auch eine höchst verwickelte. Die von den Putschisten unter Videla entmachtete Peronistische Partei wurde vom Mussolini-Bewunderer Perón als rechtspopulistisch-sozialistische Bewegung gegründet. 1943 war Perón als Oberst an einem Militärputsch beteiligt, wonach er Minister der Militärregierung amtierte, und nachdem er 1946 die Wahl gewann, ordnete er die Auflösung von drei Parteien zugunsten einer Einheitspartei an, entließ über 2000 Professoren und andere Universitätswissenschaftler, sorgte für willkürliche Inhaftierungen wie die von Victoria Ocampo, Borges' Mutter sowie seiner Schwester und bot unzähligen nationalsozialistischen Kriegsverbrechern Unterschlupf im Land. Auch ist es einem peronistischen Präsidenten zu verdanken, dass von 1992 bis 2017 das Bildnis des Diktators Rosas den 20-Pesoschein zierte. Weitere Dopplungen, neben jenen Diktaturen, sind in Piglias Roman die Exilanten, von denen die einen kamen und die anderen gingen, die Untreue Maggis gegenüber seiner Frau und die Enrique Ossorio gegenüber Rosas, dessen Sekretär er war, und die bereits erwähnten Recherchen. Mit letzteren befasst sind vier Figuren: Renzi (über Maggi), Maggi (über Enrique Ossorio), Tardewski (zu Hitler und Kafka) und Arocena (zum Inhalt fremder Briefe).
Sowohl Marcelo Maggi, der wiederholt verschwand und den Renzi nie getroffen hat, als auch Enrique Ossorio, der sich im Exil das Leben nahm, haben mythologische Züge. Mit der Vergangenheit verbunden wird das Geschehen in der Gegenwart insbesondere durch die Erinnerungen und die Familiengeschichte des fast 100-jähigen Luciano Ossorios, was an Vorgänger wie den 95-jährigen Pancho in Sábatos Über Helden und Gräber erinnert. Doch der alte Herr ist hier kaum mehr als eine Stimme und einen allwissenden Erzähler gibt es nicht. Die verschiedenen Erzähler berichten fast nur, was sie und andere in Briefen oder mündlich sagen, Fiktives mischt sich mit Realem; sie wechseln zwischen Briefroman und Monolog, aber auch ins Essayistische und in Richtung Kriminalroman. Wer jeweils schreibt beziehungsweise redet, erschließt sich oftmals nur bei aufmerksamem Lesen. Während der Aufbau des Romans komplex ist, sind die Sätze von einfacher Art und lassen auf dieser Ebene keinen unverwechselbaren Stil erkennen. Rhetorisch Auffälliges beschränkt sich auf Vergleiche und Hyperbeln oder erweist sich als Zitiertes. In diesem Werk sind schöne Details von anderer Art und finden sich mitunter auch am Rande, wie in den Briefen, die mutmaßlich verschlüsselt sind und erzählerische Freiheiten bieten, die ihr Schreiber exzellent zu nutzen weiß.

Rund hundert große Namen fallen im Roman, prägende Personen der argentinischen Geschichte neben Schriftstellern und Philosophen, darunter Joseph Conrad, den Tardewski mit dem bürgerlichen Namen Korzeniowski nennt, aber auch Thomas Bernhard, obwohl eine erste spanische Übersetzung eines seiner Bücher erst in jenem Jahr 1979 erschien. Im zweiten Teil weichen Einblicke in die argentinische Literaturgeschichte in Details vom Gewöhnlichen ab, wenngleich Renzi stellenweise ebenso allgemein Bekanntes als eigene Erkenntnisse zu besten gibt wie zum Beispiel, wenn er sagt: "Ich denke, dass Borges in seinen fiktiven Texten die Hommagen und seine Lektüreerfahrungen mit Texten der argentinischen Literatur (und nicht nur der argentinischen nebenbei bemerkt) verarbeitet." Schon Borges selbst hatte darüber geschrieben, wie er aus literarischen Vorlagen eigene Versionen schuf, ganz zu schweigen von der Rezeptionsgeschichte. Auch wirkt der Weg zu jenen Kommentaren Renzis ein wenig konstruiert, wie in der Szene, in der Marconi auf das Stichwort Borges reagiert, doch statt sich dabei aufzuhalten, lohnt es sicher eher, noch mal den ersten Teil zu lesen.

Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki
 
Hochprozentiges
 
Von Darius Amberger, 1. Februar 2019
  
1969 geschrieben und vier Jahre später in einer ausländischen Zeitschrift publiziert, erschien dieses russische Poem erstmals 1988 in Jerofejews Heimatland. Der Erzähler, Wenitschka Jerofejew, trägt eine Namensform des Autors, und Ausgangspunkt der titelgebenden Reise ist der Kursker Bahnhof im Zentrum Moskaus, von wo es normalerweise zwei Stunden und fünfzehn Minuten dauert, bis die Regionalbahn Petuschki erreicht. Wie jeden Freitag wartet dort auf Wenitschka sein Mädchen nebst Sohn, doch neben diesem "rettenden" und "glückverheißenden" Ziel ist er vornehmlich auf Spirituosen fixiert, was sich nur allmählich ändert, eben in jenem Maße, in dem diese ihre Wirkung zeigen und der Geschichte Pep verleihen.
Ausgestattet mit einem Köfferchen voll Alkoholika und von Engelsstimmen begleitet begibt er sich auf den besagten Weg, lechzend nach dem nächsten Schluck und gerade so viel atmend, "dass sich beim Gehen die Beine in den Knien nicht verheddern". Die Etappen seiner Tour sind mit Ortsangaben überschrieben, wozu auch Bahnstationen zählen, und die Handlung ist auf einen Tag begrenzt – genug Zeit für ein Menschenleben und das Porträt einer Gesellschaft.

Das erste Drittel der Lektüre ist geprägt von Alltagsbeschreibungen sowie von Beschaffung und Konsum hochgeistiger Getränke. Was sich heute wie krasse Satire liest, bleibt häufig nah an der sowjetischen Wirklichkeit, der Wenitschka sich durchaus anzupassen sucht, wenngleich sein Ton nicht ohne Sarkasmus ist. "Was ist das Wunderbarste auf der Welt? Der Kampf um die Befreiung der Menschheit", wärmt er eine ausgehöhlte Phrase auf, um im Anschluss die teils toxischen Zutaten eines "noch wunderbareren" Cocktails aufzulisten.
Wenitschka ist ein geselliger Mann. Seine Spirituosen ziehen Mitreisende an, mit denen er gern teilt und über Bunin, Gogol, Pissarjew, Tschechow, Mussorgskij und andere spricht, schließlich ist man ja gebildet. Sein erweitertes und von ihm wiederholt direkt angesprochenes Publikum sieht der Erzähler jedoch auf dem Planeten verstreut, und den zahlreichen intertextuellen Bezügen nach zu urteilen, geht er auch hier von Belesenheit aus, sei es in der Bibel oder in russischer und deutscher Literatur. Kenntnisse über die Gründerväter des Sozialismus und seinerzeit allgegenwärtige Phrasen sind ebenfalls von Vorteil und Wenitschka setzt diese explizit voraus wie dort, wo er den vier Gestalten begegnet.

Doch selbst bei Erkennen derartiger Bezüge verläuft die Reise zunehmend verwirrend. Der ersehnte Schluck im Rausch, "um wieder klar im Kopf zu werden", bleibt ihm verwehrt. Mehrmals halluziniert er im Delirium, unter anderem von einer Revolution, die dabei satirische Züge erhält: "Alles hatte damit begonnen, dass Tichonow an das Tor des Landwirtschaftssowjets von Jelissejkowo seine vierzehn Thesen angeschlagen hatte. Genauer, er hatte sie nicht ans Tor geschlagen, sondern mit Kreide an den Zaun geschrieben. Eigentlich waren das auch keine Thesen, sondern Wörter, eindeutige und lapidare Wörter, und es waren auch keine vierzehn, sondern zwei. Aber wie dem auch sei, damit hatte alles begonnen."
Bezeichnend ist zudem, dass die Namen und Kilometerangaben in den Kapitelüberschriften selbst dann auf das Ziel Petuschki weisen, als die Hauptfigur schon auf dem Rückweg ist. Die Reise nach Petuschki ist eine, die lange zwischen Komik und Tragik oszilliert, und je näher Wenitschka seinem Ziel zu kommen glaubt, desto absurder wird das von ihm Erlebte. Seine Geschichte gewinnt an Tiefe, während die Logik immer widersprüchlicher und die Übertreibungen gewagter erscheinen. Der Blick des Lesers folgt der Wahrnehmung Wenitschkas, die sich mehr und mehr von einem realen Umfeld entfernt, dem er in der letzten Szene – in einer Örtlichkeit, die der des Ausgangspunktes gleicht – dennoch nicht entrinnen kann. Und wie kaum anders zu erwarten: Auch dieses Ende spielt auf zwei andere Werke der Weltliteratur an.

Zur Übersetzung ist anzumerken, dass neben der von Natascha Spitz eine weniger sprachgewandte und vorgeblich wissenschaftlichere von Peter Urban existiert.


Olga Tokarczuk: Ur und andere Zeiten
 
Mitten im Universum
 
Von Darius Amberger, 18. November 2018 
  
Wenn Olga Tokarczuk C. G. Jung ihren Inspirator nennt, dann bezieht dies nicht dessen holprigen Schreibstil ein. Ihre Sätze sind leicht verständlich, aneinandergereiht zu kurzen Geschichten, die ein Kapitel bilden, worin jeweils eine "Zeit" beschrieben wird, die eines Menschen, eines Engels, einer Seele, eines Pilzgeflechts, die Zeit von Pflanzen, eines Ortes, eines Hauses, einer Kaffeemühle, eines Spiels, die Zeit der Muttergottes von Jeszkotle und die Zeit Gottes. Die erzählerische Perspektive ist auf den jeweiligen Gegenstand und dessen unmittelbares Umfeld konzentriert, in der Summe auf den kleinen Ort Ur im Süden Polens, wo sich fast die gesamte Handlung abspielt.
Der zeitliche Rahmen orientiert sich an der Lebenszeit der Müllerstochter Misia. Die Geschichte beginnt im Sommer 1914 ein halbes Jahr vor ihrer Geburt mit der Rekrutierung ihres Vaters und endet ein oder mehrere Jahre nach ihrem dem Jahr 1980 zuordenbaren Tod, als Misias älteste Tochter Adelka die Heimat nach einem Besuch mit der alten Kaffeemühle der Mutter verlässt. Das Personal besteht aus dieser und zwei weiterer Familien, aus darum gruppierten anderen Bewohnern Urs sowie aus Soldaten, Funktionären und Beamten von außerhalb. Auch der Ort der Handlung ist überschaubar: Eine Welt en miniature, die Parallelen findet in einem Ignis fatuus genannten Spiel in Gestalt eines kreisförmigen Labyrinths, durch dessen acht Welten sich Gott dem Freiherrn Popielski offenbart, deren innerste und erste mit Ur bezeichnet wird. Die anderen sieben jener Welten hat Gott weit weniger im Griff und diese zunehmende Schwäche lässt sich durchaus auf Ur, die jenseits der Ortsgrenze gelegene Fremde und die Geschichte übertragen. Obwohl selten von Gott bestimmt, ist das Leben in Ur ein weitgehend determiniertes, eben so, wie es in der im Roman zitierten Spielanleitung zum Spiel Popielskis heißt: "Die getroffene Wahl ergibt sich immer von selbst, doch hat der Spieler zuweilen den Eindruck, dass er sie bewusst getroffen hat."

Die Erzählinstanz ist umfassend informiert, sie weiß, wann der jeweilige Schutzengel erscheint, und sie berichtet über Gottes wirken, aber auf der Ebene der einzelnen Kapitel ist die Erzählsituation eine personale. Die jeweiligen Wesen werden mit Empathie beschrieben, auch solche, die Unrecht begehen, und die sich wiederholenden "Zeiten" ähneln Fortsetzungsgeschichten. Der Leser wird mit ihrer Welt vertraut. Der Grundton ist ein harmonischer, doch für Widersprüche offener: Die Grenze Urs wird von vier Erzengeln bewacht, nur können diese nicht die Weltgeschichte am Eintreten hindern, und von Ruta, der Tochter der naturverbundenen Ähre, erfahren wir, dass diese Grenze fertige Menschen hervorbringen könne, dass niemand sie überwinde und nichts dahinter sei. Später ist es Ruta selbst, der – wie Adelka – dieser Ort entzaubert wird, wonach sie jenseits seiner Grenze zieht.
Die Bewohner Urs reagieren mehr als sie agieren und das Augenmerk liegt auf ihrem Alltag, ihrem menschlichen Dasein. Ernährung, Begehren, die Gründung einer Familie, die Geburt eines Kindes, Krieg, Mord und natürlicher Tod sind wiederkehrende Motive. Daneben agieren Engel, die ein Wissen haben, das frei von Denken und Logik ist, und es geschehen Wunder wie die sich plötzlich mit heilsamer Milch füllenden Brüste Ähres. Legendenbildende, mythisch anmutende Szenen und ein altertümliches Setting färben auch auf realistisch geschilderte Ereignisse aus der Historie des 20. Jahrhunderts ab. Diese Ausweitung ins Mythische gelingt nicht zuletzt dank einer Reduktion auf Archetypen und Symbole. So wie der Freiherr Popielski nach Verlust seines Landes und sonstigen Vermögens durch das von einem Rabbi geschenkte Spiel mit den acht Welten verbunden ist, ist es die Müllerstochter mit ihrer Kaffeemühle, die ihr der Vater aus dem Krieg mitbrachte.
In solchen Sphären erstaunt es kaum, wenn die Muttergottes von Jeszkotle zu einem über einen kirchenschändenden Hund empörten Küster sagt: "Lass den Hund in Ruhe! Ich passe für Florentynka aus Ur auf ihn auf." Ja, an Humor mangelt es hier nicht und auch die zur Strafe aus dem unter der Erde verborgenen Königreich vertriebenen Pilze werden im Gedächtnis bleiben. Weitere bevorzugt verwendete rhetorische Stilmittel sind Übertreibungen und Wie-Vergleiche wie dort, wo es über Mütter heißt: "Die Kinder waren aus ihnen geschlüpft wie die Küken aus den Eiern. Und das Ei musste danach selbst zusehen, dass es wieder ganz wurde." Mitunter sind Anspielungen subtil und nur vage zu deuten, etwa wenn Misia während des Monats vor ihrem Tod die linke Seite der Welt zu sehen bekommt. Auf Landkarten und den Pythagoreern nach ist dies die Abendseite.

Mit diesem 1996 erschienenen Roman Tokarczuks hat die damals 34jährige Autorin ein Werk geschaffen, worin alles mit allem verbunden ist und stilistisch zueinander passt. Mit Gefühl für Sprache aus dem Polnischen ins Deutsche übertragen wurde Ur und andere Zeiten von Esther Kinsky. Vermutlich ungewollt rätselhaft bleibt lediglich, weshalb Popielski mit einem achtseitigen Würfel und entsprechenden Augenzahlen in der deutschen Übersetzung zunächst eine Null würfelt.


Flann O'Brien: The Third Policeman
 
Because you don't grow old there
 
Von Darius Amberger, 2. November 2018 
  
Flann O’Brien ist nicht das einzige, aber das bekannteste Pseudonym, unter dem der irische Regierungsbeamte Brian O’Nolan publizierte. 1939 erschien bei Longman sein Erstling At Swim-Two-Birds, bei dem dekonstruktive und metafiktionale Elemente im Vordergrund stehen und der mit einer absichtsvoll-umständlich erklärenden Erzählweise auffällt. Kurz darauf schrieb er mit The Third Policeman einen wesentlich subtileren Roman, der jedoch erst 1967, ein Jahr nach O’Nolan Tod, einen Verleger finden sollte.
Der namenlose Ich-Erzähler dieses Werkes offenbart sich als ein besonders einfältiger, und entsprechend konventionell ist zunächst auch die Geschichte. Bereits im ersten Satz schildert der Erzähler einen Mord, den er zusammen mit seinem Freund John Divney begangen hat, und diesem Schuldbekenntnis lässt er einen Abriss der eigenen, dem Mord vorausgegangenen Lebensgeschichte folgen. Erst ab Beginn des zweiten Kapitels erfahren wir etwas über die seltsamen Theorien seines Idols de Selby und mit dem Griff nach einer Geldkassette stößt der Erzähler in völlig neue Dimensionen vor.

Den Wandel des Geschehens erfährt der Leser sukzessive: In einer dunklen Ecke seines Hauses taucht wie eine Geistererscheinung der ermordete Old Mathers auf und wenig später meldet sich die Seele des Erzählers zu Wort. Letzterer weiß nicht mehr, wie er heißt, sondern nur, dass er auf der Suche nach der Geldkassette des Ermordeten ist, weshalb er – zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass er ein Holzbein hat – sich auf den Weg zu einer Polizeistation begibt, denn: "If they knew so much they would have no difficulty in telling me where I would find the black box."
Auf die doppelbödige Natur der Polizeidienststelle deutet schon ihre optische Erscheinung hin. Das Haus schaut wie eine schlecht gemalte Plakatwandwerbung aus, doch beim Näherkommen scheint es sein Äußeres zu ändern und räumliche Tiefe zu erlangen. Von den beiden Polizisten, die er im Gebäude antrifft, ist der eine, Sergeant Pluck, auf diverse Weise mit Fahrrädern beschäftigt, während der andere, MacCruiskeen, immer kleinere, am Ende unsichtbare Objekte anfertigt. Nach jahrelangem Starren an eine Zimmerdecke gelang es MacCruiskeen zudem, in den dortigen Rissen eine genaue Karte der Region zu entdecken und sogar einen zuvor unbekannten Weg, der in die Ewigkeit führt.
Was wir über diese Ewigkeit erfahren, ist mit de Selbys Erkenntnissen ebenso verwandt wie Plucks zentrale Fahrradtheorie. Der gesamte Roman folgt einer ureigenen Logik, deren Hintergründe spätestens im letzten der zwölf Kapitel ausgeleuchtet werden. Daneben wird in einzelnen Episoden zusätzlich Spannung aufgebaut. Aber auch rhythmische Variationen und Wiederholungen charakterisieren diese Geschichte, besonders häufig in den Dialogen mit verschiedenen Personen und gegen Ende in Form einer Schleife, welche die Hauptfigur den Großteil des Geschehens noch einmal durchleben lässt. Das erneute Staunen des Erzählers beim Anblick der wie schlecht gemalt wirkenden Polizeistation deutet darauf hin, dass er das früher Erlebte bereits vergessen hat, was ihn aber – und wen wundert es? – nicht daran hindert, als Erzähler zu fungieren.

Trotz jener Variationen ist die thematisch um menschliche Wahrnehmung kreisende Geschichte höchst effizient erzählt und allein die mit dieser am Mündlichen orientierten Sprache kontrastierenden Fußnoten zu de Selbys Ideen und Schriften überschreiten hier und da das optimale Maß. Das Personaltableau ist übersichtlich. Ohne das Fahrrad des Sergeanten Pluck mitzuzählen, komme ich auf ein Dutzend einzelne Figuren, darunter eine Frau. Neben dem Verhalten des Fahrrads ist vor allem das der drei Polizisten bizarr und grotesk.
The Third Policeman beeindruckt sowohl durch einen respektablen Plot als auch durch eine einfache und zugleich originelle Sprache, geprägt von Übertreibungen, Personifikationen und einer – nach herkömmlichem Verständnis – widersprüchlichen Logik. Der ernste Ton der handelnden Personen erhält beim Lesen eine humoristische Note, etwa wenn Sergeant Pluck, dessen Fahrrad in der einzigen Zelle steht, den des Mordes Beschuldigten fragt: "Would it inconvenience you if I neglected to bar you into the inside of the cell? I do not desire to be selfish but I have to think carefully about my bicycle. The wall of this day-room is no place for it."
Was uns in diesem Werk erzählt wird, lässt sich vielfältig deuten, nicht nur im Sinn des eigentlichen Plots, sondern auch als Parodie, als komischen Kriminalroman, als Wissenschaftssatire, als Sequenz rätselhafter Episoden oder allegorisch. Allein der Erzähler geht unbeirrt seines Weges und es ist nur konsequent, wenn er einen Tag nach jenem Griff nach der ominösen Geldkassette feststellt: "It would be foolish to doubt anything after yesterday."


William Gaddis: J R
 
Das Spiel der Spiele
 
Von Darius Amberger, 9. Oktober 2018 
  
Amerika erlebte in den 1960er Jahren einen Boom bei Unternehmen, die durch rasch aufeinanderfolgende Übernahmen diversifizierte Großkonzerne wurden. Finanziert wurde größtenteils mit Fremdkapital. 1975, bei Erscheinen von J R, waren viele dieser Konglomerate bereits im Niedergang begriffen und es sollte bis in die 80er Jahre dauern, bis mit Private Equity und Leveraged Buyouts ein ähnlicher Boom einsetzte, der bis heute anhält. Gaddis, 1922 in Manhattan geboren und in Massapequa auf Long Island aufgewachsen, arbeitete in den 60ern als Reden- und Skriptschreiber für einige Großunternehmen und war vertraut mit jenem Umfeld, das er für seinen Zweitling wählte.
"Der Trick ist der, dass man das Geld anderer Leute für sich arbeiten lässt" – diesen Leitsatz des Unternehmertums auf Pump hört auch der elfjährige J R während eines Klassenausflugs an die Wall Street, als dessen Höhepunkt die Klasse "einen Anteil an Amerika" in Form einer Aktie erwirbt. Noch stärker als in Gaddis' Erstling The Recognitions wird sich in J R am Markt orientiert. Geld ist das Hauptwort, mit welchem der Roman beginnt, und das für den titelgebenden Helden das Maß aller Dinge ist. Wer kennt keinen Unternehmer, der zuweilen die Mentalität eines Elfjährigen zeigt? Warum also nicht einen Elfjährigen einen Mischkonzern aufbauen lassen? Dass er allerlei über die Wirtschaft weiß, aber ansonsten ganz das Kind bleibt, lässt ihn umso menschlicher erscheinen und dies trotz wenig vorteilhafter Eigenheiten.

J R ist ein Buch ohne Stille. Es ist ein Dialogroman. Das Tempo ist hoch, die Szenen reihen sich nahtlos aneinander. Der Roman hat eine Haupt- und mehrere Nebenhandlungen, aber der Erzähler hält sich merklich zurück. Auf zusammenfassendes Erzählen wird durchgängig verzichtet. Die seltenen Beschreibungen sind meist in Dialogzeilen eingebettet und von diesen allein anhand des Inhalts unterscheidbar. Pausieren und durchatmen lassen sie den Leser nicht.
Die Wiedergabe der Gespräche erfolgt direkt im Wortlaut, doch wer jeweils etwas sagt, wird vom Erzähler nicht erwähnt. Je nach Sprecher ist das Gesagte mal mehr, mal weniger verständlich. Man unterbricht sich selbst, sucht nach Worten, lässt sich ablenken, schweift ab, wechselt mitten im Satz das Thema, fällt sich häufig wechselseitig in das Wort, äußert sich im Fachjargon von Buchhaltern und Aktienhändlern. Auch ein Radio mischt sich unaufhörlich ein und von Telefongesprächen, die gleichfalls selten exklusiv sind, wird uns pro Szene nur eine Seite mitgeteilt, denn der Erzähler ist nicht allwissend, er ist einer, der belauscht.
Für den Rezipienten von Vorteil ist die Fähigkeit zum konzentrierten Lesen, zu stetiger Aufmerksamkeit, um die Sprecher im Auge zu behalten oder diese wiederzuerkennen am Idiolekt und an anderen spärlichen Details. Wird die Lektüre unterbrochen und das aktuelle Setting samt Personal vergessen, geht leicht der Handlungsstrang verloren, da Hinweise dazu im Dialogverlauf auf ein Minimum beschränkt sind. An kleineren Ausschnitten und an der Sprache interessierten Lesern bleibt immerhin stets diese Ebene.

Haupthandlungsorte sind eine verlotterte, von erfolglosen Künstlern und als Büro für J Rs Firma genutzte Wohnung in der 96. Straße Manhattans und J Rs Schule inklusive Telefonzelle auf Long Island. Auch ein Haus der in der Vergangenheit lebenden Tanten des Komponisten Edward Bast, der anfangs J Rs Lehrer und später dessen Stellvertreter ist, steht wiederholt im Zentrum des Geschehens. Als komplexe und zum Greifen nahe Persönlichkeiten bleiben neben den bereits genannten auch Emily Joubert und Jack Gibbs, die beide ebenfalls Lehrer sind, sowie der PR-Schreiber Thomas Eigen und die koksende, von Sex versessene Rhoda in Erinnerung. Geschäftsleute werden hingegen als eindimensionale Wesen dargestellt, und von J Rs Mitschülern gewinnt lediglich der Sohn von Major Hyde an Profil. Wenn man diese beiden Jungen zusammen auf dem Postamt sehe, so Gibbs zu "Amy" Joubert, begreife man plötzlich, wie der militärindustrielle Komplex funktioniere – eine Äußerung, die auf das Konzept von einem verkleinerten Abbild deutet. Verhaltensweisen, wie sie hier exemplarisch im kleinen Rahmen veranschaulicht werden, formen in der Summe ein Gemeinwesen, das aus Sicht des Einzelnen schicksalhafte Auswirkungen hat.
Mehrmals werden Wagner und dessen Ring erwähnt, und dass Rheingold für die Entstehung seines Werkes wichtig ist, sagte Gaddis selbst einmal in einem Interview. Eine über die Figur des Alberich hinausgehende Intension des Autors fasst vermutlich Bast in Worte, wenn er sagt, dass er das Publikum zu etwas bringen wolle, statt etwas zu verlangen, "wie dieser E-Moll-Akkord, der das Rheingold eröffnet, immer weiter geht, er geht hundertsechsunddreißig Takte weiter, bis die Vorstellung, dass sich alles unter Wasser abspielt, wirklicher geworden ist als der schwitzige Plüschsessel, in dem man sitzt, und die viel zu engen Schuhe und . . ." Es ist ein dunkler Ton, mit dem diese Oper beginnt, um sich allmählich in eine Vielfalt zunehmend kräftigerer Stimmen und Themen zu entfalten, ein Ton, durch den man nach und nach in etwas hineingezogen wird. Abgesehen davon, dass bei Wagner jener Akkord des Vorspiels von Rheingold nicht in der Klagetonart E-Moll, sondern in Es-Dur tönt.

Ein anderes für J R bedeutsames und darin wiederkehrendes Motiv ist Entropie, die in den Jahren zuvor schon von Pynchon, Vonnegut, Barth und Bellow für literarische Zwecke verwendet wurde. Entropie wird von Gibbs, der später als nebenbei Schreibender mit dem Werktitel Agápē Agape eine besondere Nähe zum Autor erkennen lässt, in einer der ersten Szenen als Unterrichtsstoff in die Geschichte eingeführt, wozu er anmerkt, dass Ordnung lediglich ein dünner, gefährlicher Zustand sei, den wir der grundsätzlichen Wirklichkeit des Chaos überstülpen. Die zerfahrene Sprache von Gibbs und anderer Personen und das Durcheinander in der Kommunikation stehen für eben diese Wirklichkeit. Dieser Roman ist offensichtlich ein Versuch, eine chaotische oder von Entropie geprägte amerikanische Wirklichkeit wiederzugeben. Doch ließe sich J R, wie in der Tat geschehen, naturalistischen Traditionen zuordnen? Ist das Dargestellte objektiv? Wie naturgetreu sind seine Dialoge?
Die Sprache wirkt natürlich und ist dennoch über weite Strecken nicht mimetisch. Diese Sprache übertreibt und sie ist anderweitig stilisiert, bereits in der ersten Zeile: "Geld . . .? mit einer Stimme, die raschelte." Ellipse, Aposiopesis, Allusion, Ploce, Pleonasmus, Tautologie, Contextual Setup, Anthropomorphismus, Synekdoche, Oxymoron und diverse Arten des Vergleichs kommen gelegentlich zum Einsatz. Richtungen und Reihenfolgen werden umgekehrt, Personen selbstentfremdet dargestellt. Aus den unterschiedlichsten Gründen abgebrochene Sätze werden zum Normalfall: "Also, ja, er, ähm, ich dachte, Sie hätten vielleicht davon gehört, er hat einen, ähm, entschuldigen Sie mich ... hallo?" und über eine Mutter lesen wir, dass sie, wenn ihre Tochter krank ist, sich wie diese anzieht und für sie in die Schule geht. Komisches und Originelles, das in natura existieren mag, wird hier stark verdichtet präsentiert.
J R ist Satire, im Ganzen wie in den Details, und als solche konsequent zu Ende geführt. Der Hintergrund ist bis heute sehr real und ernst und selbst die Charaktere sind bislang kaum gealtert in diesem grandiosen, anspruchsvollen Werk. Bemerkenswert ist auch, dass es für eine deutsche Übersetzung (um nicht zu sagen Nachdichtung), für die schließlich Marcus Ingendaay und Klaus Modick sorgten, über zwei Jahrzehnte brauchte, aber somit immerhin nur halb so lange wie bei Gaddis' Erstling und Vorgängerroman.


Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe
 
Tragödie des Geistigen
 
Von Darius Amberger, 23. September 2018 
  
Von der Philosophie Heraklits sind lediglich Fragmente überliefert und aus Fragmenten bestehen auch die philosophischen Betrachtungen in Pessoas Hauptwerk, worin zudem Parallelen zur Flusslehre des Ioniers zu finden sind, etwa wenn wir lesen, dass jedes Gesicht, das wir gestern gesehen haben, heute ein anderes sei und dass dasselbe wie gestern zu fühlen heiße nicht zu fühlen. Sein wahres Wesen, sagt uns der Erzähler über sich, sei ein fließendes, und selbst ein erneutes Lesen der eigenen Texte sei ihm nicht möglich, denn: "Der Mensch dieser Seiten ist ein anderer. Ich verstehe bereits nicht mehr recht ..." Welche Erzählweise würde dazu besser passen als eben jene fragmentarische?
Pessoa konnte Das Buch der Unruhe, mit dem er fünfundzwanzigjährig und mit über vierzig intensiv beschäftigt war, nie selber publizieren. Was er hinterließ, waren der Titel und möglicherweise dazugehörende ungeordnete Fragmente, die zusammen mit zigtausenden weiteren Blättern in einer Truhe lagen und für deren Aufarbeitung es bis zur Erstausgabe nahezu ein halbes Jahrhundert brauchte. Wenige Jahre nach Livro do Desassossego erschien eine stark gekürzte von Georg Rudolf Lind erstellte deutsche Übersetzung, der 2003 eine revidierte und wesentlich vollständigere von Inés Koebel unter dem Titel Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares folgte.

Pessoa, ein routinierter Nutzer von Heteronymen, bezeichnete Bernardo Soares als Halbheteronym und Teil der eigenen Persönlichkeit. In einem Vorwort beschreibt er, wie sie einander kennenlernten und er von dessen Buch erfuhr, das zu veröffentlichen zu Pessoas Lebensziel wurde. Das Werk von Soares besteht neben Betrachtungen des eigenen täglichen Umfelds und Philosophischem vor allem aus intensiver Selbstbeobachtung. Auch er ist nicht allein mit sich und notiert als Teil einer Lebensregel: "Die anderen zu sein, wenn man andere braucht". Jeder von uns stelle eine Gemeinschaft dar, ein Stadtviertel des Mysteriums, schreibt Soares und folgert an anderer Stelle: "Da ich mich ganz kenne, kenne ich auch die gesamte Menschheit ganz", jene Menschheit, die – neben dem Leben – ein Objekt seines Ekels ist, den er bisweilen noch vertiefen möchte, "so wie man Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden".
Soares ist ein Melancholiker mit misanthropen Zügen. Überdruss, "heraldisch wie die Nachkommen ferner Helden", ist seine Art der Distanzierung. Die Brotarbeit als Hilfsbuchhalter bietet keinen Spielraum für selbstbestimmtes Handeln, und was er im Privaten zu Papier bringt, wird nicht verlegt. Er fühlt sich unverstanden. "Ein jeder hat die Philosophie der eigenen Anlagen", schrieb Pavese in seinem Tagebuch. Dem entsprechend stilisiert sich Soares als "Verschwender des Verzichts", hält Zeitvergeudung für etwas Ästhetisches und lehnt es ab, verstanden zu werden. Physische Nähe ist ihm ein Gegen-Stimulus und selbst den eigenen Körper nennt er einen Misthaufen, während Worte "berührbare Leiber" sind. Vieles mutet esoterisch an: Das Leben sei eine Reise des Geistes durch die Materie, ein Windstoß pfeife durch das Bewusstsein von etwas anderen, und was man einer Sache materiell hinzufüge, verringere sie geistig. Vom höheren Menschen ist einige Mal die Rede, von einem, der aufsteigt und vollkommener wird. Was Soares in seinem Innersten fühlt, ist für ihn unvermittelbar. Überhaupt sieht er sich ganz zu seinen Gedanken, zu seinen Empfindungen geworden, zu einer Fiktion in jenem Universum, dass er für sich selber ist, und wenn er träumt, dann weil er dabei ohne Illusionen ist.

In dieser "Biographie ohne Ereignisse" ist keine Spannung zu erwarten. Einsamkeit ist ein wiederkehrendes Motiv, ebenso Entfremdung, das Entfremdetsein vom Leben, von eigenen Körperteilen, von sich selbst, der Seele, vom eigenen Bewusstsein. Einer der beigefügten "Großen Texte" trägt die Entfremdung programmatisch im Titel. Gelegentlich werden vom Erzähler Personen aus dem eigenen Umfeld erwähnt wie sein Chef Vasques oder ein paar Lastenträger, die sich in jener Dimension verorten lassen, in der man, wie Soares schreibt, lediglich als Körper lebt, aber eine dramatische Handlung entsteht auch dadurch nicht. Wesentlich häufiger tauchen Namen historischer Persönlichkeiten auf. Henri-Frédéric Amiel, Thomas Carlyle, Etienne de Condillac, Diogenes von Sinope, Omar Khayyām, Jean-Jacques Rousseau und António Vieira sind nicht zufällig präsent. Was der Erzähler von Herbert Spencer wiedergibt, variiert er selbst in anderen Fragmenten und von Ernst Haeckel zitiert er in leicht abgewandelten Worten einen Satz, nach dem die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Menschen größer als die zwischen den niedrigsten Menschen von den höchsten Tieren seien.
Soares ist nicht ohne Widersprüche, etwa wenn er feststellt: "Alles Denken erscheint uns herabgewürdigt, kaum verleiht man ihm mit Worten Ausdruck." Seine Ausdrucksweise ist eindeutig und klar, wie von jemand, der verstanden werden will, und zugleich überwältigt dieses Werk mit einer Vielzahl kunstgerecht unter Verwendung rhetorischer Stilmittel formulierter Sätze. Dass er sich seiner widersprüchlichen Haltung bewusst ist, zeigt sich, wenn er in der Tradition von Epimenides und Eubulides schreibt: "Doch glaube auch nicht an das, was ich dir sage, denn man soll an nichts glauben." Für ihn begleitet Ironie nicht nur das Spiel mit Realität und Fiktion. Sie liegt auch in den Gegensätzen.

Übertreibungen, Verkleinerungen, Vergleiche und sonstige Gleichsetzungen, Ploces, etymologische Figuren, Tautologien, Unterscheidungen von scheinbar Identischem, Synästhesien, Oxymora und scheinbar Widersprüchliches, Anthropomorphismen, Verkörperlichungen von Gedanken, Gefühlen, Träumen, Leben, Tod, Zeit, Seele, Geist und anderer Abstrakta sowie Entkörperlichungen der Seele und der eigenen Person sind weitere häufig verwendete rhetorische Figuren. Auch Fremdbestimmung, Abstand zu und Uneinigkeit mit sich selbst werden in verschiedenen Fragmenten in Worte gefasst. Nicht wenig sieht er durch das eigene Wesen, die eigenen Befindlichkeiten und Gefühle, durch Gegenteiliges oder scheinbar Gegenteiliges bedingt. Ursache und Wirkung werden umgekehrt und Wirkungen sind oft konträr zu dem, was man gewohnt ist, oder es fehlt an dem, was einem Zustand, einer Absicht, einer Tat vorausgehen müsste. Und ja, "ein ehrlicher Satz sollte immer mehrere Bedeutungen haben können".
Die ihm wichtigen Gedanken werden vom Erzähler wiederholt und variiert. Hier schreitet nichts voran, außer der Facettenbildung, aber vielleicht ist es mit dem Lesen wie mit dem Reisen und "was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind."


Orhan Pamuk: Rot ist mein Name
 
Perspektiven
 
Von Darius Amberger, 7. September 2018 
  
Platon bezeichnete Werke der bildenden Künste abwertend als Nachahmungen von Abbildern. Subjektive Ausdrucksformen wie die Änderung von Körperproportionen nannte er irreführend und die Illusionsmalerei ein schuldhaftes Vergehen. Den Kunstwerken und ihren natürlichen Grundlagen vorgeordnet sind seiner Lehre nach Ideen – als jeweils reiner Inbegriff einer Eigenschaft. All dies sind Aussagen, die im islamischen Kulturraum rege rezipiert wurden.
Pamuks sechster Roman Rot ist mein Name handelt im Istanbul des Jahres 1591, wo die osmanische Miniaturmalerei unter Murad III. ihren Höhepunkt erlebt. Auch hier werden Bilder argwöhnisch betrachtet und dies nicht nur wie im Juden- und Christentum im religiösem, sondern gleichermaßen im profanen Bereich, da aus islamischer Sicht die Schöpfung von Lebewesen allein die Sache Gottes ist. Dennoch entwickelte sich seit der Herrschaft Mehmed II. eine Miniaturmalerei, die für östliche und westliche Einflüsse offen war, wobei nicht vergessen werden sollte, dass im europäischen Mittelalter bis ins 14. Jahrhundert hinein die Porträtmalerei ebenfalls kaum eine Rolle spielte und eine realistische Darstellung mit Perspektive, detailliertem Schatten und Tiefenwirkung erst mit der altniederländischen Malerei im 15. Jahrhundert aufkam.

Miniaturmalerei ist in diesem Roman ein Feld der Auseinandersetzung, doch reichen die damit verbundenen Konflikte weit über diese Kunstform hinaus. Rot ist mein Name beginnt mit der Stimme eines toten Vergolders, der mit drei weiteren Buchmalern an einem Werk mitwirkte, das ein Geschenk des Sultans an den Dogen von Venedig werden soll. In einem Brunnen liegend wartet er darauf, gefunden zu werden, und fordert dazu auf, seinen Mörder zu finden. In den folgenden achtundfünfzig Kapiteln kommen weitere Erzähler zu Wort, einige einmalig, andere bis zu einem Dutzend Mal: Miniaturmaler, Geliebte, Verwandte, Nebenfiguren, eine Münze, ein gemalter Hund, ein Pferd, ein Baum, der Tod, die Farbe Rot, der Satan. Diese treten nicht wie Zeugen auf. Sie werden nicht gezielt befragt. In ruhigem Ton erzählen sie aus ihrer eigenen mit dem Fall verbundenen Geschichte, mit eigenem Charakter und eigener Perspektive. Adressat ist ein Leser oder Zuhörer, der nach und nach zwar nicht allwissend wird, aber mehr erfährt, als jeder einzelne Erzähler weiß, ausgenommen den verborgenen, der ganz am Ende preisgegeben wird.
Was aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln geschildert wird, ergibt eine vielseitige, eine heterogene Geschichte. Es ist unterhaltsam, wenn die Farbe Rot uns ihr Gefühl beim Niederlassen auf einer schönen Illustration beschreibt, wobei ihr vom Pinsel kitzlig wird, und es ist lehrreich, wenn ein auf ein Blatt Papier gemalter Baum über fremdländische Meister plaudert und für sich selbst betont: "Nein, ich will kein Baum, will nur der Inbegriff eines Baumes sein." Als wären die Ideen Platons hier das Ideal. Doch schweifen wir nicht ab von jenem Mord? Ist dies kein Kriminalroman? Dies ist es, aber nur vordergründig. Den Täter zu finden, ist vor allem Kara bemüht, der die Tochter eines Oheims ehelichen will, in dessen Händen das Projekt des besagten Buches liegt. Die Hintergründe jenes Mordes und weiterer Taten sind das eigentliche Thema des Romans.

Zentraler Streitpunkt dieser Maler ist der Stil. Als hervorragendste Eigenschaft eines Altmeisters wird von einem Illustrator dessen Eigenschaftslosigkeit genannt und ein anderer erklärt Stil als eine Abweichung, als Mangel eines Werkes. Signatur und Stil bedeuten danach nichts weiter, als dass man sich dumm und hochnäsig mit Unvollkommenheit brüste. Blindheit ist in diesem Kontext ein wiederkehrendes Motiv, weniger als Metapher, sondern als Teil eines Kunstverständnisses, das Idealisiertes – memoriert und jahrzehntelang wiederholt – dem Realistischen und Individuellen vorzieht. "Das beste Bild eines Pferdes würde ohnehin im Dunkeln gezeichnet", zitiert der Mörder alte Meister, und in einer anderen Schule gilt Blindsein als die höchste Tugend von Allahs Gnaden, weshalb dieser Zustand ersehnt und, wenn es nicht anders geht, herbeigeführt wird. Begünstigt durch die Erzählstruktur können Meister Osam und andere Traditionalisten ihre Argumente gleichberechtigt mit für Neues und Fremdes offeneren Kontrahenten präsentieren.
Aus dem mitunter tödlichen Aufeinandertreffen verschiedener durchaus nuancierter Ansichten zu Stil und Identität entsteht eine thematische Grundspannung. Das gleichwohl häufig Statische dieses Erzählwerks passt nicht nur zur traditionellen osmanischen Ikonographie und zur Tätigkeit eines "die eigene Geduld malenden" Illustrators, sondern auch dazu, dass zur Zeit des Geschehens das Osmanische Reich seine größte räumliche Ausdehnung erreicht. Mit einer Fülle von Details, Beschreibungen und erläuternden Geschichten wird uns jene ferne Welt vermittelt.

Dass die neunzehn Erzähler der einzelnen Kapitel einen ähnlich ausgewogenen und eingängigen Sprachstil verwenden, fördert den Lesefluss. Individuelle Eigenarten sind inhaltlicher, selten sprachlicher Natur, was auch für die Verwendung von Stilmitteln wie Oxymora und das Beleben gemalter Lebewesen gilt. Der Erzählton ist jeweils der von Geschichtenerzählern, sachlich, aber bisweilen von leichter Ironie begleitet. Er lädt nur marginal zu Mitgefühl und Nähe ein. Weder die Liebes- noch die Kriminalgeschichte sind derart ausgestaltet, dass hierdurch das zentrale Thema an Gewicht verlieren könnte: ein Richtungsstreit unter Miniaturmalern vor vierhundert Jahren. Diesen Roman als Gleichnis für Verhältnisse in der Türkei der 1990er Jahre zu lesen, liegt nicht fern, wird uns jedoch nicht aufgedrängt.


Norman Mailer: Frühe Nächte
 
In der Spalte zwischen zwei mächtigen Hinterbacken
 
Von Darius Amberger, 18. August 2018 
  
Berühmt geworden durch Die Nackten und die Toten und nachfolgend durch halbjournalistische Werke, Interviews und politische Aktionen im medialen Rampenlicht geblieben, veröffentlichte Mailer 1983 mit Frühe Nächte einen Roman aus sieben Büchern, der trotz einiger vertrauter Motive erstaunlich anders als sein sonstiges Œuvre ist.
Im einleitenden "Buch eines Toten" erfahren wir vom Ich-Erzähler, dass er nur einen Arm zu schwenken brauche, um auch Entfernungen außerhalb seiner Reichweite zu fühlen, und dass, als sich seine Gedanken durch einen stirnbreiten Schacht bewegen, sein Leib ausreichend geschmeidig ist, ihnen auf diesem Weg zu folgen. Später, an der Tür zu einem Grab, fließt sein Finger – so jedenfalls fühlt es sich an für ihn – in den Mechanismus eines Schlosses. Während er die Hand dreht, springt es auf, und als er dahinter die Hinterlassenschaften von Grabräubern entdeckt, ist sein Zorn derart gewaltig, dass sein Blick an einem Bronzeleuchter eine Flamme entfacht. An einem zerfressenen Fuß einer Mumie sieht er ein weißliches, wuselndes Gewirr, derweil ihm selbst die Sohlen der Füße wie von Ameisen brennen. Erst allmählich wird ihm klar, dass er der Ka dieses Toten, der Ka von Osiris Menenhetet II. ist.

In eben jenem Grab im Ägypten des 12. Jahrhunderts v. Chr. kommt er ins Gespräch mit dem Ka seines Urgroßvaters Menenhetet I., und was dieser ihm über die Götter und seine eigenen vier Leben erzählt, füllt den Hauptteil dieses umfangreichen Romans. Davor, dass es obszön werden wird, warnt uns der Erzähler bereits ausgangs des ersten Buches. Die Götter werden in diesem Sinn zu einem Leitbild aufgebaut, dem Pharaonen und weniger göttliche Wesen folgen. Die Verbindung von Machtgebaren und Sex ist zentral für dieses Werk und jenes Land am Nil, das für Ramses IX., wie wir lesen, "nichts anderes als die Spalte zwischen zwei mächtigen Hinterbacken ist". Sexualisierte Göttermythen und pharaonische Geschwisterehen werden ergänzt und ausgeweitet, ausgehend von Altbekanntem wie dem Übergriff von Seth auf seinen Bruder Horus und dem Inzest zwischen Horus und seiner Mutter Isis, zu dem es im "Buch der Götter" heißt, dass sie, indem sie ihrem Sohn beischlafe, ihrem Mann Osiris die Treue halte.
Menenhetet I. erzählt besonders ausführlich über sein erstes Leben und sein Wirken unter Ramses II., dessen Frau er statt Nefertari Nefertiri nennt, während in sein viertes Leben die Herrschaftszeit von Ramses IX. fiel, den auch der Urenkel kennenlernte, und da beide Erzähler über telepathische Fähigkeiten verfügen, wird ihr Wissensstand durch die Gedanken anderer Personen erweitert. Geschildert werden Rituale und Gepflogenheiten in Episoden und größeren Ereignissen, teils in exzessiver Weise, aber ohne dass eine umfassende dramatische Handlung entsteht. Die Rolle des Urgroßvaters gegenüber Menenhetet II. gleicht der eines Jenseitsführers, nur dient hier die Welt der Toten lediglich als Rahmen, um aus dem Leben zu erzählen, und der Leser muss selber nach sich schauen, will er nicht in einer Geschichte versinken, in der Religion, Gewalt, Magie und Sex schwerlich zu trennen sind. Es ist vorrangig Ramses II., der als "großer Pflug von Ägypten den Acker bestellt", was Menenhetet I. vier Tode später folgern lässt: "Sein Samen ist im Samen von uns allen."

Der Zeit und dem Land angemessen ist Magie allgegenwärtig, auch im Skatologischen und dort nicht auf den göttlichen Skarabäus beschränkt. Nicht selten geht das Magische über Religion und ihre Rituale, über Mythologie und die Köpfe der Menschen hinaus, etwa wenn Wonnekugel mit ihrer Stimme eine Leier an der Wand zum Zittern, Alabasterschalen zum Klirren und den Boden unter den Füßen zum Beben bringt. Übertreibungen, besonders von Wirkungen und Fähigkeiten, Vergleiche, Oxymora, Anthropomorphismen, anderweitig verkörperlichte Abstrakta, Entkörperlichungen und Synästhesien sind die häufigsten rhetorischen Figuren.
Historische Romane geben gewöhnlich weniger Historie als die zeitbedingte Sicht der jeweiligen Autoren wieder und Mailer projiziert womöglich mehr in das Ägypten jener Jahre als für dieses Genre als angemessen gilt. Was in den ersten beiden Büchern, dem "Buch eines Toten" und dem "Buch der Götter", zunächst zwar nebulös, aber stilistisch gelungen ist, wirkt danach über weite Strecken ermüdend. Dieselben Motive werden in Variationen immer wieder aufs Neue und oft mit übermäßigem Aufwand illustriert. Das Streben der Figuren in dieser vornehmlich phallozentristischen Kultur zielt primär auf Status und Macht, und selbst als Menenhetet II. erkennt, dass sogar der Urgroßvater in seinen vier Leben nicht gefunden hat, was dieser suchte, sagt ihm sein Ba – in Form eines kleinen Vogels mit Menschenkopf und seinem Gesicht –, "dass Reinheit und Gutheit Osiris weniger bedeuteten als Stärke". Bis zuletzt hängt es ganz vom Leser ab, ob er diesen Roman, dessen erzählerischer Ton ein ernster ist, als einen kritischen, schmähenden oder verherrlichenden liest.


Ernesto Sábato: Über Helden und Gräber
 
Was gäbe ich darum . . .
 
Von Darius Amberger, 4. August 2018 
  
Sábato war fünfzig und hatte die Hälfte seines Lebens noch vor sich, als 1961 mit Sobre Héroes y Tumbas der zweite seiner drei Romane erschien. Die deutsche Übersetzung von Otto Wolf ist eine gekürzte, wobei den Streichungen im zweiten Teil auch eine der bekanntesten Passagen des Werkes zum Opfer fiel: jene Szene, in welcher zwei der Hauptfiguren den damals bereits erblindeten Borges auf der Straße sehen, und ihr anschließendes, vorwiegend abwertendes Gespräch über ihn, das bei einem Priester namens Rinandini endet, der über Borges geschrieben hat. Infolge solcher Kürzungen stimmt auch die Anzahl der Unterkapitel der vier Teile nicht mit der im Original überein.
Eine derartige Verschlankung mag der Handlung des Romans förderlich sein, doch sind es gerade solche Ansichten, die für den Autor offensichtlich alles andere als nebensächlich waren. Im ersten, zweiten und vierten Teil gibt der Erzähler mehrmals Einschätzungen des philosophierenden Bruno Bassán wieder, der – im Alter des Autors – zum Vertrauten des jugendlichen Martín Castillo wird. Dem, was Bruno verallgemeinernd denkt und äußert, wird kaum widersprochen. Es dient primär als Erklärung für den Leser wie dort, wo Bruno über den ebenfalls gleichaltrigen Fernando Vidal Olmos, dessen "Bericht über die Blinden" den dritten Teil des Buches ausmacht, sagt:
"Jedenfalls konnte man seine von der Norm abweichenden Eigenheiten dem väterlichen Erbe zuschreiben, aber auch der Tatsache, dass die Familie Olmos in gewissem Grade exzentrisch und degeneriert war (ein echt nationales Attribut vieler alter Familien). Diese dekadente Familie machte den Eindruck, als ob sie sich aus Gespenstern und verträumten Schlafwandlern zusammensetzte, inmitten einer brutalen Realität, die sie nicht spürten, nicht hörten, nicht begriffen, was ihnen auf merkwürdige und beinahe komische Art zunächst einmal den paradoxen Vorteil gab, die harte Mauer der Realität zu überwinden, als ob sie nicht vorhanden wäre."
Verwandtschaftlich mit den Olmos verbunden sind zudem die Acevedos, zu denen ein einst mit Lavalle kämpfender Oberst gehört, dessen Kopf hundert Jahre zuvor von der paramilitärischen Mazorca durch ein Fenster der Familienvilla geworfen wurde. Und als Bezug zu der realen Welt sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass auch Borges' Mutter von einer alten argentinischen Familie namens Acevedos abstammt.

Auf einer weiteren Erzählebene wird – in nicht-exklusiver kursiver Schrift und im Wechsel mit der jüngeren Handlung – von der Flucht der Legion Lavalle im Jahr 1841 berichtet, womit eine Parallele zwischen politischer Historie und dem Leben ein Jahrhundert später gezogen wird. Verknüpft wird beides durch Alejandra Vidal Olmos und ihre Familie, die in Argentinien verwurzelt ist, weshalb ich statt des in der deutschen Übersetzung verwendeten "Alexandra" stets den spanischen Namen las und hier bei diesem bleibe.
Eine Liebesgeschichte zwischen dem aus schlichten Verhältnissen stammenden Martín Castillo und eben dieser Alejandra ist Ausgangspunkt und tragendes Motiv des Romans, eine Beziehung, um die sich vor allem Martín bemüht, auch wenn Alejandra ihn "Dummkopf", "Kindskopf", "Idiot" und "geistig zurückgeblieben" nennt. Überhaupt wird ihr rätselhaftes und mitunter herrisches Wesen wie komplementär zu seinem dargestellt und dieses Erzählwerk handelt nicht zuletzt von Martíns Versuchen, dieses Wesen zu ergründen. Ort der Liaison ist anfangs der Lezama-Park und später der ehemals wohlhabende und nun von Arbeitern und Einwanderern bewohnte Stadtteil Barracas in Buenos Aires, wo noch Reste des alten Anwesens der Olmos stehen, worin unter anderen der 95jährige Pancho lebt, der mit seinen Erinnerungen ein Bindeglied zur parallel erzählten Geschichte vom Ende der Legion Lavalle darstellt. Die Konflikte und Veränderungen Argentiniens, seiner Hauptstadt und eben jenes Stadtteils werden gespiegelt in den Identitätsproblemen des jungen Liebespaares und in der Rolle, die Mutter und Vater nicht nur für diese beiden spielen.

Dem Anspruch des Autors entsprechend, ist kein Satz derart stilisiert, dass dies den Lesefluss bremst. Für Letzteres sorgen allenfalls die Wechsel zwischen den verschiedenen Erzählebenen. Häufig verwendete rhetorische Figuren sind bildliche Vergleiche und Paradoxa. Die geschilderten Schicksale sind größtenteils tragisch, obgleich für Argentinier nicht ohne nationalen Wert, wie Fernando mit einem Gegenbeispiel unterstreicht, wenn er in seinem "Bericht über die Blinden", den sich ansonsten jeder selbst erschließen sollte, schreibt:
"Und so ging es mir bei jener Gelegenheit durch den Kopf, dass die Legende von Wilhelm Tell getreulich die Schweizer Seele spiegelt: als der Schütze mit dem Pfeil den Apfel traf – und es war sicherlich die genaue Mitte des Apfels –, verloren die Schweizer die einzige historische Gelegenheit, sich einer großen, nationalen Tragödie rühmen zu können. Was kann man von einem solchen Land erwarten? Eine Rasse von Uhrmachern, bestenfalls."
Die Gegenwart wird mit düsterem, Tiefe suggerierendem Grundton gezeichnet, doch nur bei sogenannten einfachen Leuten wie Humberto J. d'Arcángelo erhalten Rückblicke auf Vergangenes nostalgische Züge. Für die Familie Olmos und die junge männliche Hauptfigur ist die Sicht eine andere:
"Von weitem schon hatte Martín den Häuserkasten gesehen, mit seinem Mirador da oben, dem gespenstischen Rest einer Welt, die nicht mehr existierte."

Die meisten der oft bildhaften Kommentare wirken bereichernd für dieses Werk. Binsenweisheiten sind vergleichsweise selten. Auf einen den Roman einleitenden und seinen Höhepunkt vorwegnehmenden Ausschnitt aus einem Polizeibericht über den Tod Alejandras und Fernandos folgt die Wiedergabe der dazugehörigen Geschichte, bei der der allwissende Erzähler – im Gegensatz zur Vorbemerkung – Spannung dadurch aufzubauen sucht, dass er zuweilen nicht einmal erwähnt, was die betroffenen Personen bereits wissen, wie beispielsweise den Grund für die Entlassung Martíns. Der Dramatik tatsächlich dienlich ist hingegen, dass der Leser wie auch Martín bezüglich der Blinden und der Beziehung Alejandras zu Fernando lange Zeit im Dunkeln bleibt.
Eine Stärke Sábatos ist es, dass er durch seine Erzähler die Reste jener alten Welt zum Leben erweckt und sie in der Person Alejandras zu einem Rätsel werden lässt, das quasi einen Ausweg aus sich selber sucht, verkörpert in dieser aparten, aber launischen jungen Frau, scheinbar unberechenbar und doch in ihrem Wesen nicht ohne Konsistenz, wie in jenem von Matrosen und Prostituierten bevölkerten Café, wo Alejandra, bevor sie von ihrem Freund verlangt, sie dort allein zu lassen, fasziniert von einer Sängerin über diese sagt: "Sie ist so heruntergekommen, sie kann nicht singen, und auch im Bett wird sie kaum taugen, außer zu ausgefallenen Perversitäten. Wer würde sich ein solches Monstrum aufladen? [...] Was gäbe ich darum, wenn ich wie sie wäre."


Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut 
 
Das Vergängliche bewahren
 
Von Darius Amberger, 22. Juli 2018 
  
In Borges' Garten der Pfade, die sich verzweigen erfahren wir von einem als Labyrinth bezeichneten Roman, einem kreisförmigen, ins Unendliche fortsetzbaren, mit Geschichten in Versionen, die einander widersprechen. Zwei Jahre zuvor veröffentlichte Joyce mit Finnegans Wake ein auf diese Weise deutbares Werk und später schuf Cortázar mit Rayuela einen solchen Roman, Beispiele, denen andere Autoren folgten. Eine Verwendung im Sinne eines Irrgartens findet das Motiv in García Márquez' Der General in seinem Labyrinth, worin der auf eine panamerikanische Konföderation zielende Weg Simón Bolívars als ein in Sackgassen und Vereinsamung führender beschrieben wird.
Beim Lesen von Georgi Gospodinovs Roman Physik der Schwermut wird nach einer einleitenden Geschichte mit einem Minotaurusjungen spätestens beim ersten "Seitengang" und dem ersten "Ort zum Innehalten" offensichtlich, dass der Roman in seinem Aufbau als Labyrinth verstanden werden will. Auch hier geht es um Einsamkeit. Auch hier wird nicht alles in nur einer Version erzählt, und etwas Kreisförmiges bekommt die Geschichte sowohl durch den "Ein Anfang" betitelten und inhaltlich rekurrierenden letzten Abschnitt als auch dadurch, dass der Erzähler mithilfe des Erinnerns einen Mechanismus auszulösen sucht, "der das Weltall dazu bringt, sich mit seiner ganzen Maschinerie in die umgekehrte Richtung zu bewegen". Anders als der in eine aktivere Rolle genötigte Leser bei Rayuela und der am Ende als Heldenfigur scheiternde General Bolívar steht in Physik der Schwermut der Minotaurus im Mittelpunkt – ein unschuldiges Opfer, in welches der Erzähler sich hineinversetzt, das er verteidigt und mit dem er sich vergleicht. Als er ihn zu Wort kommen lässt, klingt er – im Unterschied zum Minotaurus in Borges' Das Haus von Asterion – auffallend verbittert.

In Physik der Schwermut versteht sich das Ich des Erzählers in der Mehrzahl und dank einer in der Kindheit ausgeprägten "pathologischen Empathie" fühlt er sich nicht nur in den Minotaurusjungen hinein. In seinen Erinnerungen vermag er mit dieser Gabe den Vater ebenso auszuspähen wie den Großvater und eine Nacktschnecke, die dieser verschluckt, und dem Leser werden die damit verbundenen Perspektiven auch durch die jeweilige Erzählsituation vermittelt. Wie schon bei Gospodinovs erstem Roman stimmt hier der Vor- und Nachname des Helden mit dem des Autors überein, wenngleich dieses Mal der Familienname lediglich indirekt durch die Nennung von mehreren unter dem Namen des Erzählers erschienenen Büchern ins Spiel gebracht wird. Dieser Georgi Gospodinov fungiert als Ich-Erzähler, wechselt aber, wo er von seiner Kindheit schreibt, mitunter "in den Schutzraum der dritten Person". Ein Wechsel von der Er- zur Ich-Erzählung inmitten einer Geschichte im "Vergangenheitsmaschine" genannten Abschnitt bleibt hingegen ähnlich rätselhaft wie anderswo der Umstand, dass direkte Rede mal mit und mal ohne Anführungszeichen wiedergeben wird. Gelungen und originell ist der Identitätswechsel gegen Ende, als ein neuer Ich-Erzähler sich uns als angeforderter Literaturexperte für die Begutachtung von Notizbüchern in der Kellerwohnung eines Schriftstellerkollegen vorstellt, welcher der vorherigen Erzähler war.
Dass der primäre Ich-Erzähler einem allwissenden ähnelt, ist, abgesehen von seinen empathischen Fähigkeiten, nicht zuletzt durch seine Sammelleidenschaft begründet: Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften, Listen, Statistiken und vor allem Anekdoten und größere Geschichten, gekaufte und anderweitig aufgeschnappte, bemerkenswerte neben banalen – all dies bunkert er in seinem Keller in sogenannten Noahkartons. Einiges, wie eine Meldung über den 2010 in Tafalla auf die Zuschauerränge einer Arena kletternden Stier, wird erzählerisch verknüpft, während anderes, wie das Lamento über eine Phobie vor der Frage "Wie geht's" oder die Beschreibung einer finnischen Dichterfamilie, isoliert wirkt und somit weniger in einem Seitengang des Labyrinths und eher in einer Art Grabkammer liegt, die der Erzähler den "Zeitkapseln" zuordnen dürfte, die ein weiteres konstituierendes Motiv dieses Erzählwerks sind.

Wie das Innere jener Noahkartons des Erzählers besteht auch der Roman aus einzelnen Geschichten, worin es größtenteils um sein bisheriges Leben, seine Familie, den Minotaurus und Bulgarien sowie, damit verschmolzen, um Mitgefühl, Trauer und Vergänglichkeit geht. Physik der Schwermut ist nicht der erste Archivroman und auch nicht der erste in fragmentarischer Form, was ihn aber von anderen unterscheidet, ist die einfühlsame Haltung des Erzählers und die Qualität des Humors. Seine Geschichten sind abwechslungsreich und unterhaltsam. Einem einheitlichen Gefüge zieht er Offenheit und Vielfalt vor und für Letzteres dient als Modell die Arche Noah. Die an sich sachliche und einfache Sprache wartet immer wieder mit überraschenden Ausdrucksweisen auf: Vergleiche, übertriebene Bezeichnungen und andere Hyperbeln, scheinbar Widersprüchliches ("genau dieses Nichts tut mir weh") und eine Vorliebe für Imaginäres, das vorgeblich reale Spuren hinterlässt, wie das unsichtbare Bajonett, das gelesene Rezept eines Birnenkuchens oder die Souvenirs nie stattgefundener Reisen.
Die neben dem Minotaurus literarischste – obwohl etwas blasse – Figur ist Gaustín, ein Freund des Erzählers aus dessen Studentenzeit in den 1990ern, der sich nach seinem Verschwinden als Zeitreisender aus dem Jahr 1937 zurückmeldet und auf den er sich bei seinem vom "reinen Genre" abweichenden Konzept und seinem Hang zu Vergänglichem beruft. Erzählerisch fesselnd sind die Lebenserinnerungen im ersten Kapitel, wo auch die erwähnten Stilmittel vergleichsweise häufig verwendet werden. Die Geschichten um den Großvater werden fast ins Mythische gehoben, während später einzelne, weitgehend spannungsfreie Zeitkapseln und Gegenentwürfe zum Anthropozentrismus überwiegen, miteinander verbunden durch des Erzählers Biografie und Sammeltätigkeit und gelegentliche Kunstgriffe wie in jener Szene, in der er mit seiner Tochter in Berlin beim Drehen eines Kriegsfilmes stört:
"Sie hielten die Kamera an. Die ganze Kinomaschinerie verstummte. Für einige Minuten steht der Zweite Weltkrieg gezwungenermaßen still. Und weil die Dinge gleichzeitig geschehen, stelle ich mir vor, wie genau in diesen zwei Minuten während der Schlacht in Ungarn eine Frau den unerklärlichen Stillstand der Kampfhandlungen genutzt hat, sie ist auf die Straße hinausgegangen und hat den verwundeten Soldaten in ihr Haus geschleppt." Jenen Soldaten, der sein Großvater war.


Yukio Mishima: Der Tempelbrand  
 
Ästhetik der Gegensätze
 
Von Darius Amberger, 5. Juli 2018 
  
Foucault verband den Wahnsinn mit einem Mangel an Sprache, Bataille schrieb, "um nicht wahnsinnig zu werden", und Jelinek nannte die Kunst ein Ventil, das sie davon abhalte zu zerstören, weshalb sie dafür danke, dass sie nicht sprachlos sei. Relativ sprachlos und zudem ein Stotterer war dagegen jener Novize, der 1950 in Kyoto den fünfhundertfünfzig Jahre alten Kinkaku-ji niederbrannte und nach der Tat für paranoid und schizophren befunden wurde.
Sechs Jahre später veröffentlichte Mishima einen nach dem zerstörten Tempel benannten Roman, in dessen Zentrum eben jener Kinkaku, jener "Goldene Pavillon" steht. Ein Priestersohn schildert darin sein Leben von der Mittelschulzeit bis zum Noviziat in diesem Tempel des Rinzai-Zen. Sein Stottern nimmt er als eine Schranke zwischen sich und der Außenwelt wahr, und während er sich als hässlich und vereinsamt beschreibt, idealisiert er die Schönheit, die er anderswo sieht. Seit der Kindheit hat er an anderen Menschen wenig Interesse und umgekehrt richtete sich die Aufmerksamkeit der anderen selten auf ihn. Sein Stottern und die Gewissheit, niemals geliebt zu werden, erachtet er als identitätsstiftend, als Kern seiner Existenz. Darauf, nicht verstanden zu werden, ist er stolz, gegenüber Mitgefühl bevorzugt er Spott und Verachtung, und seine Sicht auf traditionelle Respektpersonen wie die Eltern und den Abt ist unverkennbar abwertend. Schon früh kompensiert er die an sich empfundenen Attribute von Minderwertigkeit durch den Glauben, ein heimlich Auserwählter zu sein, doch obwohl er seine Geschichte selbst erzählt, erleben wir das Gegenteil eines heroischen Charakters. Mizoguchi, so der nur zweimal erwähnte Name des Erzählers, bleibt als Person eher unscheinbar.

Als er im Tempel den Mitnovizen Tsurukawa als Freund gewinnt, hält er ihn für das Positiv eines Lichtbildes, von dem er selbst das Negativ ist, und "lernt, dass im Bereich der Gefühle kein großer Abstand besteht zwischen den allerbösesten und allerbesten Gefühlen in dieser Welt, dass ihr Ergebnis das gleiche ist, dass zwischen Mordwillen und Barmherzigkeit kein sichtbarer Unterschied besteht." Tsurukawa stellt alles im Positiven dar. Sein zweiter Freund Kashiwagi hingegen hat Klumpfüße und baut wie Mizoguchi seine Existenz auf ein wesentliches Handikap auf, aber anders als dieser versteht er es tatsächlich, seine Behinderung zum eigenen Vorteil zu nutzen. Schönheit ist für ihn eine Illusion und seine Vorliebe für Schönes ist begrenzt auf Vergängliches wie Flötenspiel und Ikebana. Entsprechend kurzlebig sind auch seine Verhältnisse mit Frauen, bei denen er nicht beklommen wie der Stotterer, sondern couragiert agiert, insbesondere bei solchen, die über alles Maß schön sind, eine kühle, scharf geschnittene Nase und um den Mund herum etwas Liederliches haben – Äußerlichkeiten, aus denen er, wie er sagt, auf dem ersten Blick eine Liebe für Klumpfüße erkennen könne, wonach er solche Frauen jeweils die "Heilige" spielen lässt.
Dieser Ästhetik der Gegensätze hing zuvor schon Mizoguchi an, als er es für natürlich hielt, "dass Krieg und Sorgen, Fülle von Leichen und Blut die Schönheit der Goldenen Halle noch reicher machten". Wenngleich das Gebäude selbst Ausdruck höchster Harmonie ist, empfindet der Erzähler bei seinem Anblick erst dann ein Gefühl von Harmonie und Glückseligkeit, als er angesichts drohender Bombenangriffe diese Schönheit bereits zu Asche werden und die Goldene Halle zum "Symbol der Flüchtigkeit aller Erscheinungswelt" verwandelt sieht.

Das Umfeld der Personen ist von Traditionen geprägt. Tempel, Gärten, Tee-Zeremonie, Ikebana, das Meditieren über ein Kōan und – indirekt – das Nō-Spiel erhalten Raum in dieser Geschichte, die thematisch um Schönheit, Vergänglichkeit, Obsession und Sexualität kreist. Die Heuchelei eines Priors dürfte kein modernes Phänomen sein und die Kommerzialisierung buddhistischer Tempel war im Wesentlichen dem Entzug staatlicher Mittel geschuldet.
Stilistisch fällt bei Mizoguchi und Kashiwagi eine Vorliebe für paradoxe Logik auf. Vieles ist für sie durch Gegenteiliges bedingt, so für den Erzähler die Liebe zur Goldenen Halle durch die eigene Hässlichkeit oder die Schönheit von Kashiwagis Flötenspiel durch dessen Klumpfüße, und für Kashiwagi entspringt die Neigung zu Grausamkeit nicht dem Anblick von Gewalt, sondern beschaulichen Augenblicken wie an einem heiteren Frühlingsnachmittag. Und: Je "trickreicher die Philosophie", desto "ehrlicher gegenüber dem Leben". Ein ähnlich häufig eingesetztes Stilmittel ist der Wie-Vergleich, während Anthropomorphismen und Zoomorphismen seltener verwendet werden und Hyperbeln nur gelegentlich, etwa wenn Mizoguchi scheint, dass die Goldene Halle nicht bloß durch seine Augen, sondern auch durch seine Kopfhaut in ihn eindringe, oder wenn ihr Spiegelbild im Weiher vollständiger wirkt als der Tempel selbst, wobei dem jedoch tatsächliche Wahrnehmungen zugrunde liegen und nur vordergründig übertrieben wird.

Die Hauptfigur, die uns an ihrer Entwicklung teilhaben lässt, erzählt geordnet und in leicht verständlicher Sprache. Die Einheit des kompositorischen Gefüges fokussiert den Blick des Lesers. Der Aufbau von Spannung wird vernachlässigt zugunsten der Ästhetik und der Offenlegung von Beweggründen. Die Themen werden souverän gehandhabt, auch erstaunt hier und da die Ausdrucksweise und die Tiefe der Gedanken in diesem vierzehnten Roman des damals 31jährigen Autors wie dort, wo Kashiwagi dem Erzähler Briefe Tsurukawas zeigt: "Nun? Etwas in dir ist zusammengebrochen. Mir ist es unerträglich, in meinen Freunden etwas leben zu sehen, was so leicht zerbricht. Meine Freundschaft liegt darin, es dann eben zu zerbrechen." Oder wo Mizoguchi über das eigene Stottern schreibt: "Wie immer kam ein Wort, mich schonungslos in Zweifel lassend, auf die Lippen, wie wenn man die Hände suchend in einen Beutel steckt und an anderem hängenbleibt, das Gesuchte aber gar nicht herauskommen will. Das Gewicht und die Dichte meiner Innenwelt waren dieser Nacht gleich, und die Worte kamen herauf wie schwere Eimer, knarrend emporgezogen aus dem tiefen Brunnen der Nacht."
Der Tempelbrand ist derzeit nur antiquarisch für ein Vielfaches eines potentiellen Neuauflagenpreises erhältlich und als Alternative bietet sich The Temple of the Golden Pavilion übersetzt von Ivan Morris an, vielleicht auch deshalb, weil die deutsche Übersetzung von Walter Donat im Stil nicht immer überzeugt. Während beispielsweise sein englischer Kollege im vierten Absatz schreibt: "I wondered whether it was not here that I developed my changeable disposition", heißt es bei Donat: "Ich könnte mir denken, dass mein unstetes Gemüt in diesem Landstrich besonders gedieh." Wer näher am Original geblieben ist, vermag ich nicht zu beurteilen, doch gilt Mishima in Japan als großer Stilist.

Nachbemerkung vom 23. Dezember 2019: Vor wenigen Tagen erschien der Roman in einer Neuübersetzung von Ursula Gräfe unter dem Titel Der Goldene Pavillon.

Magdalena Tulli: Getriebe 
 
Der Lebensweg eines Erzählers
 
Von Darius Amberger, 16. Juni 2018 
  
Zentraler Ort ist ein Hotel, dessen Keller keine verlässliche Begrenzung hat. Nach immer tiefer gelegenen Stockwerken kommt kein Fundament, sondern lediglich ein dünner Boden, unter dem ein unterer Himmel liegt, und auch die Kellerkorridore lassen kein Ende erkennen. Sie werden allenfalls durch Gitter oder Müll versperrt und wenn "der Erzähler" dort in einen Zug steigt und diesen eine Station später verlässt, befindet er sich weiter im Hotel, selbst wenn er von jener in einem Arbeiterviertel verorteten Haltestelle zu einer Bar geht und von deren Korridor durch eine Lukenklappe abwärts klettert und kurz darauf durch selbige hinauf, aber nun unverhofft vom Dach eines Wohnhauses schaut und dies zirka sechzig Jahre in der Zeit zurückversetzt.

Der Zugang zu jenen Tiefgeschossen ist gewöhnlichen Gästen des Hotels verborgen. Sie sehen weder die Wendeltreppe nach unten noch die verschlungenen Kabel und Rohre entlang der Korridore, anders als der Erzähler, der, ausgestattet mit den passenden Schlüsseln, Zutritt zu allen Handlungsorten hat und in der Geschichte als Hauptperson agiert.
Von einer höheren Instanz wird diesem Erzähler vorgeworfen, er beschreibe die Kulissen nur von hinten, "ohne den geringsten erkennbaren Versuch, die Übergänge zwischen Holz und Pappe, Farbnasen, die nackte graue Leinwand, die groben unbehandelten Stützbalken, die die ganze Konstruktion tragen, zu kaschieren". Neben anderen Indizien lässt dies darauf schließen, dass die von ihm zu erzählende Geschichte die uns vorliegende ist, mit sich selbst in dritter Person und zudem derart in einer personalen Erzählsituation an sich gebunden, dass er noch nicht mal weiß, ob einer von ihm geschaffenen Person die Brieftasche gestohlen wurde. Doch wer ist "der", der von ihm einen täuschend echten Eindruck der Wirklichkeit erwartet, der ihn berufen und seither vernachlässigt hat, womöglich faulenzend im Bett liegend "zwischen zerwühlten Decken, mit dem Rücken zur Welt, umgeben von leeren Flaschen oder benutzten Spritzen"? Für wen steht diese dem Erzähler Bargeld zahlende höhere Instanz jenseits aller Ironie? Für den Autor, den Verleger, den Literaturbetrieb? Oder die naheliegendste Option: den Erzähler dieses Werkes, der von der Figur zu trennen ist?

Auf den ersten Seiten dieser Geschichte werden Personen in Erzählungen mit Hochseilakrobaten verglichen, ein Gleichnis, aus dem heraus fast unmerklich zwei derartige Artisten als handelnde Personen entstehen, die im Hotel absteigen. Weitere gleichnishafte Metaphern folgen und als eine solche kann auch das Hotel betrachtet werden, in welchem sich alles mit allem verweben lässt. Die Figur des Erzählers, der den Faden führen sollte, ist zwar überfordert und ohne Einfluss auf gravierende Veränderungen, doch muss dies den Leser hier nicht stören. Im Gegenteil. Der Leser macht es sich bequem, während der andere – obwohl meist mit der Geste dessen, der nur schreibt, was er gerade sieht – sich mit der Geschichte abmüht, wenig souverän und eher wie ein Opfer, gefangen und gegängelt in jener Welt, die im Innersten zerfällt.
Eine der Personen wechselt ihr Metier und entsprechend ihr Outfit. Accessoires wie herunterhängende Hosenträger, eine Goldrandbrille und eine opalisierende Glaskugel tauchen bei Personen in gegensätzlichen Rollen auf. Neben dem Ehepaar Feuchtmeier und einem gleichnamigen deutschen Kanonenboot-Kapitän tritt ein jüdisches Ehepaar mit einem verwandt klingenden und für diesen Zweck ins Jiddische transferierten Namen auf. Ein Trompeter heißt John Maybe und ein Akrobat wird Magsein und Möglich genannt. Generell sind die Figuren spärlich ausgestattet.

Angedeutet wurde bereits die Vorliebe des Erzählers für Metaphern, die auch bravourös gehandhabt werden. Des Weiteren erleben wir die Personifizierung von Worten und bildliche Wie-Vergleiche. Nach dem Zeitsprung an der Lukenklappe, der den Erzähler in die Zeit des Zweiten Weltkrieges versetzt, ist der Kopfhörer eines anachronistischen Walkmans zu sehen, "der wundersam überlebt hat", und natürlich bringt in diesem Umfeld kein Durchschneiden eines Kabels ein Telefon zum Schweigen, weshalb es auch in jener fernen Zeit nicht überrascht, dass sich am anderen Ende die höhere Instanz via Mobiltelefon meldet.
Dialoge sind selten und direkte Rede findet sich erst eingangs des Finales. Insgesamt ist dieses Werk wesentlich origineller, als es der eher ins Mechanische weisende Titel erwarten lässt. Besonders beeindruckend an Getriebe ist die ironische Distanz des Erzählers, sein lässiger, stets unprätentiöser Ton. Der Erzähler weiß, dass der Sinn seiner Existenz in nicht mehr als dieser Geschichte besteht, an deren Ende er in Stille und Dunkelheit verschwinden wird, aber nicht bevor ihm widerfährt, was anfangs als Vergleich geäußert wurde.

Die promovierte Biologin Magdalena Tulli debütierte 1995 vierzigjährig mit ihrem ersten Roman. Getriebe, ihr dritter, wurde von Esther Kinsky übersetzt und erschien hierzulande von mir gänzlich unbemerkt. Auf Magdalena Tulli und ihr Werk aufmerksam machte mich Annelie Jagenholz, der ich für ihre zahlreichen Hinweise zu sehr unterschiedlichen Autoren danke.


Andrej Bitow: Das Puschkinhaus 
 
Hinter der Gestik des Erzählens
 
Von Darius Amberger, 3. Juni 2018 
  
Auch in sozialistischen Zeiten galt Puschkins Werk als Gipfelleistung der russischen Literatur, da er in dieser dem Realismus zum Durchbruch verholfen hatte und zudem als volksverbunden wahrgenommen wurde. Andererseits ließen sich politische Restriktionen, wie er sie zur Zarenzeit erdulden musste und die er rohe Willkür nannte, mit den sowjetischen vergleichen. Ein Bekenntnis zu Puschkin konnte somit dem offiziellen Nationaldichter wie auch dem freiheitsliebenden Kritiker gelten. Eine ähnlich zweideutige Haltung – die Ehrfurcht vor dem Offiziellen und der Wunsch nach Wandel – prägte einen beachtlichen Teil der russischen Literatur, in der wiederum gesellschaftlicher Alltag zum Ausdruck kam. Der Titel des Romans Das Puschkinhaus kann daher nicht nur als Hinweis auf die museale Tradition oder auf Puschkins Überhaus-Charakter, sondern auch auf jene doppelte Natur gesehen werden.
Für die Erstveröffentlichung des 1971 beendeten Romans sorgte ein Auslandsverlag 1978 in der Originalfassung, wobei damals der zu dieser Zeit geschriebene Kommentarteil genauso wenig enthalten war wie in den ersten Übersetzungen Mitte der 80er Jahre. Jenseits des Samisdat wurde das Werk erst 1987 in Bitows Heimat publiziert.

Ort des Geschehens ist Leningrad, das der Erzähler, wenn er die Altstadt meint, auch Petersburg nennt, und erzählt wird weitgehend aus der Perspektive des dort wohnenden Lew Nikolajewitsch Odojewzews, genannt Ljowa, dessen unmittelbaren Vorfahren in väterlicher Linie zwei bekannte Philologen sind. Ljowas Geburt im Jahr des Höhepunkts der stalinistischen Säuberungen und zugleich hundert Jahre nach Puschkins Tod darf – jenseits der Koinzidenz mit dem Geburtsjahr des Autors – symbolisch verstanden werden. Trotz eines distanzierten Verhältnisses zum Vater wächst er wohlbehütet auf. Als ein wahlweise Onkel Mitja und Onkel Dickens genannter Nachbar aus einem sibirischen Lager zurückkehrt, dient dieser als Ersatzfigur für den in einem solchen Lager verschwundenen Großvater, der seinerseits später eine Rolle spielen wird. Obwohl Ljowas eigene Lebensgeschichte, die uns bis zur bevorstehenden Verteidigung seiner Dissertation als Literaturwissenschaftler geschildert wird, auffallend stromlinienförmig verläuft, fühlt er sich zu jenen authentisch wirkenden alten Männern hingezogen.
Im Roman gibt es Versionen und Varianten und als solche bezeichnet werden auch die beiden ersten Teile des Romans, zwischen denen das Hauptaugenmerk von Ljowas häuslichem Umfeld zu seinen Freundinnen und den auf eigene Weise zwiespältigen Nationalisten und Antisemiten Mitischatjew wechselt, bevor im dritten Teil ein bereits im Prolog ins Bild gesetzter Vorfall während des höchsten sowjetischen Feiertages beschrieben wird. Die Handlung wird begleitet von Kommentaren des Erzählers und separat hervorgehobenen des "Autors". Letzterer geht mehr auf literaturwissenschaftliche Hintergründe ein, aber beide thematisieren das Schreiben des Romans wie dort, wo der Erzähler das Lektorat um Terminverschiebung bittet, "auf dass Ljowa alles hinbekäme".
Indem der Autor und sein Erzähler über die Gestaltung der Figuren reflektieren, wird uns deren generelle Formbarkeit ebenso bewusster, wie dass sie ihre Rollen in "Varianten" in einem zeitgemäßen Rahmen spielen. Der Karrierist Ljowa ist ein Antiheld seiner Zeit und wird als solcher literaturgeschichtlich eingebettet. "Puschkin vergöttert er, in Lermontow erkennt er seine eigene Infantilität", heißt es über ihn, doch auch auf Dostojewski, Tolstoi, Tschernyschewski und Turgenew wird sich explizit bezogen, mal eher ironisch, mal eher ernsthaft, und angesichts der adeligen Herkunft Ljowas mag man vielleicht an die Herkunft der meisten dieser Herren denken. Dutzende weitere Autoren werden erwähnt, zitiert oder mit Anspielungen bedacht, vor allem russische des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Statt allein von zusammengetragenen Fakten und deren Beurteilung mittels objektiver Methoden sind Ljowas Aufsätze stark von persönlichen Erfahrungen und Emotionen geprägt. Umgekehrt ist der Roman trotz autobiografischer und anderer realistischer Elemente nicht nur ausgesprochen metafiktional, sondern auch von den schon angesprochenen literaturwissenschaftlichen Betrachtungen durchsetzt. Was auf dem ersten Blick wie eine Mischung aus traditioneller Erzählweise und Essayistik und auf dem zweiten postmodern daherkommt, lässt beim dritten Blick Originalität und Stilsicherheit erkennen. Die Sätze sind wie mit leichter Hand geschrieben ("Und so gießen wir diesen nichtexistierenden Äther in nicht erhaltene Großmutterfläschchen ..."). Als Stilmittel werden neben Ironie und Parodie häufig Übertreibungen und Anthropomorphismen verwendet, und rhetorisch stark ist vor allem der erste Teil des Werkes. Die in Russland in den 50er und 60er Jahren herrschenden Verhältnisse werden realistisch, aber sprachlich in prägnanten Bildern dargestellt.
Die die dennoch fiktionale Natur der Beschreibung herausstellenden Kommentare, das Hintertreiben von Emotionen auf der Rezipientenseite, die stellvertretenden Charaktere, das nicht-lineare Erzählen und die alternativen Handlungen erinnern nicht so sehr an Tristam Shandy und Eugen Onegin wie an das epische Theater, wo diese Elemente – ebenfalls gezielt die Illusion zerstörend – für Distanz zum Dargestellten und zu bewussterem Betrachten sorgen. Im Unterschied zum epischen Theater wird hier auktorial jedoch weder direkt gewertet noch zum Handeln aufgefordert. Gleichwohl lassen sich Sympathien und Antipathien des Erzählers erahnen, etwa wenn Albina und Blank mit noblen Zügen ausgestattet werden, während Mitischatjew, Faina und Ljubascha die eigenen Interessen weit weniger geniert vertreten, oder er den Großvater prophetisch anmutende Worte wie diese sagen lässt: "Das Beharrungsvermögen von Konsumtion und Vermehrung wird so massiv und groß sein, dass selbst, wer begreift, was vorgeht, höchstens den Moment des Fallens bewusst beobachten kann, den Augenblick, wenn die Lawine sich vom Bergkamm löst."

Obwohl es bei einigen Kommentaren zu wünschen wäre, Autor und Erzähler hätten sich mehr an der knappen Form von Onkel Mitja orientiert, ist Das Puschkinhaus in seinen Schilderungen menschlichen Verhaltens, seiner Intertextualität, Ästhetik und "Desorientierung" ein außerordentlich gelungenes Werk. Anzumerken bleibt an dieser Stelle noch, dass dieser in der Übersetzung von Rosemarie Tietze empfehlenswerte Roman derzeit in keinem deutschsprachigen Verlagsprogramm zu finden ist.


William Gaddis: The Recognitions
 
Jenseits des Vollendbaren 
 
Von Darius Amberger, 7. Mai 2018 
 
1945 war das Jahr, in dem Han van Meegeren in der U-Haft um sein Leben malte, und ein Jahr später begann Gaddis mit der Arbeit an seinem Erstling, der 1955, herangewachsen zu 956 Seiten, bei Harcourt erschien. The Recognitions ist einer jener Romane, die man heute als enzyklopädische bezeichnet, und Hauptthema in diesem Werk sind Fälschungen in all ihren Formen: in der hohen Kunst, in Diskursen und Geschwätz, in der allgemeinen Selbstdarstellung, in Religion und weltlichen Objekten bis hinab zum schnöden Geld – Fälschungen in den verschiedensten Bereichen unserer Kultur. Dabei wird derart überzeichnet, dass das Ergebnis eine Parodie ist, die sowohl literarische Vorlagen wie Goethes Faust als auch die dargestellte Gesellschaft umfasst und von der Ebene des Erzählers auf die der handelnden Personen ausgeweitet wird, etwa wenn der Harvardianer Feasley über sich und seinesgleichen sagt, dass sie letztendlich alle nur Parodien voneinander sind. 
 
Dieses Opus präsentiert sich als eine Anhäufung von Stimmen und Lebenswegen, von denen der markanteste der des obsessiven Malers und späteren Kunstfälschers Wyatt Gwyon ist. Vom Pariser Kunstkritiker Crémer, der für verkaufsfördernde Artikel zehn Prozent aller Einnahmen verlangt, nach seinem Stil befragt, erwähnt er Memling, und in dessen Manier und in verwandten Stilen malt er dann auch Jahre nach Ablehnung jenes Angebots in Greenwich Village weiter. Die Bilder Memlings und anderer Vertreter altniederländischer Malerei zeichnen sich durch eine detaillierte, an realen Körpern und Landschaften orientierte Malweise aus. Recognition, das Erkennen, kann darauf bezogen werden, aber auch auf den Stil eines gefälschten Bildes, wie dies Wyatt tut, oder auf das Gefühl der Vertrautheit mit einem Werk, als wenn man dieses selbst geschaffen hätte, von der ein Komponist namens Stanley an einer Stelle spricht, wie auf jede Art von Täuschung, auf Pareidolie, die wir hier ebenfalls erleben, auf Bestätigung und Anerkennung, das Erkennen seiner Selbst oder das Wiedererkennen von dem, was der Erzähler vor uns ausbreitet. The Recognitions, im Plural, deutet auf mehrere Varianten hin, doch wie auch Wyatts Modell Esme über den Titel eines ihrer Gedichte sagt: "Why should it mean anything? It's the title." 
Der vorliegende Roman besteht aus drei Teilen, von denen der mittlere – mit Wyatts Erfolgen als Fälscher – deutlich größer als die anderen ist. Ein Vergleich mit Triptychen von Bosch und Memling, wie er von einigen bereits gezogen wurde, ist naheliegend. So wie bei jenen alten Meistern die jeweils verschiedenen Szenen der Bilder für sich sprechen und ohne Kommentar gedeutet werden müssen, ist es mit den Dialogen im Roman. Der Erzähler ist ein auktorialer, er lässt uns teilhaben an dem, was dutzende Personen reden und treiben, aber er erklärt uns vieles nicht. Wer eine ordnende Instanz, eine Wertung, eine moralische oder sonstige Botschaft sucht, darf sich selbst behelfen. 
 
Zehn Jahre, bevor Gaddis an diesem Werk zu schreiben anfing, war der letzte Band von Dos Passos' USA-Trilogie erschienen, worin neben erzählerischen Kapiteln achtundsechzig "Newsreels" genannte Abschnitte enthalten sind, die jeweils aus Zeitungszitaten bestehen. Diese ins Verhältnis zur Handlung des Romans zu setzen, wird dem Leser überlassen. Der Effekt ist ein erfrischender. Eine ähnliche Wirkung erzielt Gaddis mit seinen Dialogen. In seinem Erstling finden wir eine Vielfalt an Stimmen, die man oft nicht nur den Sprechern, sondern auch einem Handlungsfaden zuordnen muss. Obwohl es bei den Gesprächen zu großen Teilen eher um Geschwätz und Zurschaustellung von Bildung geht, hören wir aus der Art, was und wie jeweils geredet wird, das Charakteristische der jeweiligen Milieus und einzelnen Figuren heraus, wobei der Humor von der einfachen ("Art today is spelled with an f.") bis zur anspruchsvolleren Sorte reicht ("Why do you hate me? Did I ever do you a favor?"). Berichtendes Erzählen wird auf das scheinbar Nötigste beschränkt und in späteren Romanen dieses Autors werden wir erfahren, dass selbst dies entbehrlich ist. 
 
Allgegenwärtige Stilmittel sind eine dezente Ironie, das Anakoluth und die Aposiopese. Nicht nur Sätze bleiben unvollendet, das Werk als Ganzes weist ähnliche Auslassungszeichen auf und natürlich findet sich in einem seiner Dialoge das entsprechende und hier abgewandelte Zitat von Valéry, "that one can never finish a work of art", anders als bei Plagiaten oder Fälschungen. Auch Übertreibungen, Anthropomorphismen und Oxymora werden häufig im Roman verwendet, ebenso wie scheinbar Widersprüchliches. Jenseits der Dialoge macht der Erzähler Spuren der Gedankenbildung besonders offensichtlich, wenn auf zwei Seiten Korrekturen beim Maschinenschreiben lesbar sind. 
Die Vervielfachungen von Objekten und Zuständen ergeben sich aus den Themen des Romans. Hier sind nicht allein die klassischen Fälscher mit der Aneignung fremder Ideen und der Wahrung eines falschen Scheins beschäftigt. Der Mangel an Originalität führt für einige Figuren zu Identitätsproblemen, die gelegentlich auch angesprochen werden, wie durch Wyatt, wenn er vom verlorenen Bewusstsein seiner selbst bei seiner Arbeit spricht, oder durch den Kunstkritiker Valentine, der Montaigne zitierend sagt: "There's as much difference between us and ourselves as between ourselves and others" – eine Uneinigkeit mit sich selbst oder aber eine stilistische Distanz, wie sie auf andere Weise zwischen Novalis und Friedrich von Hardenberg sowie zwischen Hieronymus und Bosch wahrgenommen wird, eine Distanz, die mitunter bemerkenswert kunstfertig vermittelt wird: "Another beer? Otto started to decline, then noticed the mirror behind the bar, and watched himself accept." 
 
Wyatt erwähnt wiederholt eine von Plato und Lukian überlieferte Geschichte, nach der Momos an einem von Vulcanus geschaffenen Menschen das Fehlen einer Öffnung bemängelte, durch die man dessen innersten Gedanken sehen könnte. Auch der vorliegende Roman bietet keine solche Öffnung. Wir erfahren lediglich, was zu sehen und zu hören ist, und beim Lesen wie im Leben braucht es einen langen Atem. 

Julio Cortázar: Rayuela. Himmel und Hölle 
 
Der freie Raum
 
Von Darius Amberger, 22. April 2018 
  
In der 1959 und somit vier Jahre vor Rayuela veröffentlichten Erzählung Der Verfolger lässt Cortázar den Erzähler über Parkers Jazz sagen, dieser stelle sich in einen scheinbar leeren Raum, wo die Musik in absoluter Freiheit bleibe, so wie die Malerei, die, sich der
Darstellung verweigernd, in Freiheit bleibe, um nichts weiter zu sein als Malerei. Unfähig zu befriedigen, bedeute diese Musik einen ständigen Anreiz, ein endloses Konstruieren, wobei die Freude nicht im Vollenden, sondern im fortgesetzten Forschen bestehe. 
In der Literatur versuchte dieser absoluten Freiheit einst Mallarmé mit dem Projekt Le Livre Gestalt zu geben und kurz vor der 1957 erfolgten Publikation von Mallarmés Fragment schufen Stockhausen, Berio, Pousseur und Boulez Kompositionen, die ihren Interpreten vergleichbare Wahlmöglichkeiten gewähren, die eine Tradition verfeinern, die sich über Bärmanns 999 und noch etliche Lustspiele durch den Würfel und den Mozart zugeschriebenen 176 Taktkärtchen zum Komponieren für jedermann bis zu Harsdörffers Proteusversen und Llulls Ars magna zurückverfolgen lässt. Nicht vergessen werden sollte auch, dass ein Jahr vor Rayuela Le Seuil in Paris mit Marc Saportas Composition No.1 das erste "Book in a Box" mit losen, frei arrangierbaren Seiten veröffentlichte und Bompiani in Mailand Ecos Opera aperta herausbrachte.
Obwohl Rayuela "viele Bücher ist", lädt ein einleitender Wegweiser zu lediglich zwei Büchern, also zu zwei Möglichkeiten der Lektüre ein, was jedoch ausreicht, damit die Rolle des Lesers als eine aktivere wahrgenommen wird und dieser vielleicht tatsächlich weniger "wie ein gehorsames Kind" – wie ein in seinen Schriften die Kausalität vernachlässigender Schriftsteller namens Morelli im Roman es nennt – von Anfang bis Ende liest. Das erste Buch besteht aus den 56 Kapiteln von Teil 1 und 2, während beim zweiten Buch zwischen diese (bei Auslassung des 55.) in nichtlinearer Reihenfolge 99 weitere Kapitel aus Teil 3 geschoben werden. In Franz Carl Endres' und Annemarie Schimmels Das Mysterium der Zahl können wir lesen: "99 erscheint in der Regel als der absoluten Einheit entgegengesetzt, oder vielmehr, als noch nicht ganz vollkommen." Das zweite Buch wäre somit ein das Unvollkommene einbeziehendes und da die Kapitel 58 und 131 jeweils aufeinander verweisen, verbleibt es darin in einer Endlosschleife. 
 
Der Roman beginnt als eine Liebesgeschichte im Paris der 50er Jahre. Hauptperson ist Oliveira, seine Geliebte ist die Maga – im Original "la Maga", nach dem spanischen Wort für Zauberin – und mit seinen jazz- und litaraturaffinen Freunden bildet er in Paris den Schlangen- Club. Im zweiten Teil, in Buenos Aires, sind Traveler und dessen Frau Talita sowie Oliveiras frühere Freundin Gekrepten wichtige Bezugspersonen. Die Geschichte kommt ohne konventionelle Charakterisierung aus und hat keinen Plot, der zu fesseln versucht. Sowohl der auktoriale als auch der Ich-Erzähler erklären kaum etwas und daneben erschweren die fragmentarische Struktur, die Elemente der Collage im dritten Teil, die Wechsel der Zeitform und der Erzähl- und anderer Perspektiven ein passives Lesen. Von einer Theorie zu einer solchen Praxis erfahren wir ausführlich im dritten Teil aus den Notizen des vom Schlangen-Club verehrten Morelli, dessen Wege sich durch einen Zufall mit denen Oliveiras kreuzen.
Morellis Schriften, die von Oliveira und den anderen Literaten im Club gelesen werden, erweisen sich als Kommentar, als Metatext zu Rayuela, und in ihrem Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen dem Autor, dem Roman und der einzigen Person, die Morelli beim Schreiben interessiert: dem Leser. Die in diesen Schriften aufgezeigte Alternative zum Bisherigen besteht darin, den Leser als einen Komplizen, einen Weggenossen des Autors zu behandeln, als jemanden, der mitarbeiten soll, und es sei daran erinnert, dass Roland Barthes' Der Tod des Autors erst Jahre nach Cortázars Roman erschien. Dessen Offenheit bezüglich der oben erwähnten Lesemöglichkeiten, seiner Lesarten und der Verknüpfung mit den im dritten Teil enthaltenen Zitaten aus Werken anderer Autoren, Liedtexten, Berichten und sonstigen Dokumenten wird dem Leser des zweiten Buches wiederholt bewusst gemacht, auch wenn die Entscheidungsmöglichkeiten nicht immer derart klar erkennbar sind wie eingangs des Romans und wie am Ende des ersten Buches. 
 
Trotz des Morellis Vorgaben folgenden Aufbaus des Erzählwerks drängt sich beim Lesen nicht der Eindruck auf, einen literaturtheoretischen Thesenroman vor sich zu haben, und selbst die metafiktionalen Elemente werden nicht übermäßig in den Vordergrund gerückt. Noch mehr als Theorien vermittelt der Roman ein Lebensgefühl. Erzählt wird hier wie beiläufig, die Abneigung gegen die rationalistischen Strukturen des Abendlandes haben sie im Klub von den Surrealisten übernommen, die Handlung ist auf kein bestimmtes Ziel gerichtet und die Suche des zur Melancholie neigenden Oliveira gilt – neben der Maga – einem hoffnungslos weit entfernten Kibbutz. Das Spielerische, auf das bereits der Titel verweist, reicht bis hinab zu einigen Wortspielen wie das an den zuvor mit einem Epigraph gewürdigten Humoristen César Bruto erinnernde Hinzufügen des im Spanischen stummen Hs am Beginn von Worten durch Oliveira, der diesen Buchstaben benutzt "wie andere das Penicillin".
Kapitel 112 enthält eine Aufzeichnung Morellis über seine Vorliebe für die Umgangssprache. Eine Erzählung sollte für ihn so wenig "literarisch" wie möglich sein und Ähnliches schrieb Cortázar 1960 in einem Brief an Paco Porrúa. Morelli nennt als negatives Beispiel einen von der Umgangssprache abweichenden Gebrauch eines Verbs und eines Substantivs. In der Tat dominiert in diesem Roman die Alltagssprache, wobei man sich auch fragen könnte, welche Sprache dem passiven Leser eher entgegenkommt. 
Literarisch im Sinne ästhetischer Ambitionen wird dagegen in Rayuela durchaus erzählt. Dass Morelli, dessen Logik sich mitunter "an ihren eigenen Schuhbändern erhängt", das rein ästhetische Schreiben verwirft, bedeutet nicht, dass seitens Oliveira und des allwissenden Erzählers auf ästhetische Sprache verzichtet wird. Neben spielerischen Elementen, Collage und Ironie werden an Stilmitteln vor allem Übertreibungen, Vergleiche, Ellipsen, Oxymora, Polyptota und Synekdochen verwendet, aber auch Sprachbilder mit verkörperlichten Abstrakta, Anthropomorphismen und Personifikationen: "Das Yonder ist eben gerade nicht Geschichte, das Yonder ist wie die Fingerspitzen, die aus den Wassern der Geschichte herausragen und irgendwo nach einem Halt suchen." 
Die Beschreibungen wirken wie aus erster Hand, und in den Dialogen wird das für die Akteure Typische deutlich, ganz so wie es an einer Stelle über eine der Figuren heißt: "Sie sprach, wie in so vielen Romanen die Frauen sprechen, wenn der Romancier keine Zeit verlieren will und das Beste der Beschreibung, das Nützliche mit dem Angenehmen verbindend, in den Dialog legt." 
 
Dieser trotz seiner Länge gedanklich ungewöhnlich dicht erzählte Roman ist voller intertextueller Anspielungen und offener Bezüge. Nein, dem Leser wird die Freude nicht genommen, diese selber zu entdecken. Oliveira und die anderen Personen diskutieren große Fragen, ohne dass es eine platte Antwort gibt. Hier wird der Blick geöffnet und nicht eingeengt, vergleichbar dem, was im letzten Kapitel des ersten Buches über Oliveira zu lesen ist: "Er hatte es gern, wenn in allem, was er anfertigte, so viel freier Raum wie möglich stand, so dass die Luft ein- und austreten konnte, vor allem, dass sie austreten konnte; ähnlich ging es ihm mit den Büchern, den Frauen und den Verpflichtungen".
Dass Rayuela, übersetzt von Rudolf Fries, erst 1981 und somit achtzehn Jahre verspätet auf Deutsch verfügbar war, muss nicht überraschen. 

Milorad Pavić: Das chasarische Wörterbuch

Vom Zusammenfügen von Träumen


Von Darius Amberger, 4. April 2018

Die Geschichte der Jugoslawienkriege wird bis heute in drei Versionen erzählt: in einer vornehmlich die Sicht katholischer Kroaten unterstützenden westlichen, in einer die Sicht orthodoxer Serben unterstützenden und in einer muslimischen. Der Serbe Milorad Pavić hielt zu Beginn jenes Krieges Teile Kroatiens, die mehrheitlich von Serben bewohnt wurden, für serbische Gebiete und klagte zugleich über eine in Europa seit Jahrhunderten währende Verdrängung der Kultur des östlichen Christentums infolge zunehmender Islamisierung.
Dieser in jenem Krieg nationalistische Positionen vertretende Autor vollendete sieben Jahre zuvor einen Lexikonroman, worin drei einander ebenbürtige Versionen der Geschichte des verschollenen Volkes der Chasaren enthalten sind: eine christliche, eine islamische und eine jüdische. Darüber hinaus gibt es das Buch als männliches und als weibliches Exemplar, wobei sich beide, von dieser Bezeichnung abgesehen, lediglich in einem Absatz unterscheiden. Aufgeteilt in ein Rotes, ein Grünes und ein Gelbes Buch, enthalten die durchschnittlich sechseinhalb Seiten langen lexikalischen Einträge vor allem Berichte und Erzählungen über das Chasarenreich und einige später damit beschäftigte Personen. Ein zentrales, von allen drei Büchern behandeltes Ereignis ist die "Chasarische Polemik" – ein Streitgespräch zwischen christlichen, jüdischen und muslimischen Gelehrten, das über die künftige Religion der Chasaren entscheiden sollte. Das letzte Wort in dieser Sache hat das Gelbe Buch und die dort beschriebene Annahme des Judentums entspricht den uns bekannten Fakten. Historisch überliefert ist ebenfalls, dass sowohl byzantinische als auch arabische Herrscher versuchten die religiös sehr toleranten Chasaren zur Annahme der eigenen Religion zu bewegen und dass Quellen beider Seiten von konvertierten Chasaren berichten. In Pavićs Lexikonroman werden die Missionserfolge jeweils übertrieben dargestellt.

In den einleitenden Anmerkungen heißt es, die Benutzung des Wörterbuches sei am erschöpflichsten, wenn man sich an die Dreierzahlen halte. Dies betreffe neben den diesen Büchern gemeinsamen Einträgen, die drei an der Polemik Beteiligten, die drei Chronisten, die drei Höllenfiguren und die jeweils drei Chasarologen des 17. und 20. Jahrhunderts. Drei ist auch die Anzahl der Seelen Samuel Koëns, den ein Eintrag einen der Autoren dieses Buches nennt. Während die Zwei polarisiert, steht die Drei für die Synthese.
In jenen Anmerkungen lesen wir außerdem, dieses Buch sei ein offenes Buch. Jeder könne es weiterschreiben, so wie es schon zuvor verschiedene Lexikographen gegeben habe. Das vorliegende Chasarische Wörterbuch sei eine Rekonstruktion eines nicht mehr zugänglichen 1691 von Daubmannus unter dem Titel Lexicon Cosri veröffentlichten Wörterbuches über die Chasaren, dessen Inhalt ein Mönch diktierte, der ihn wiederum aus auswendig gelernten griechischen, arabischen und hebräischen Glossaren habe. Ein Gegenstand des Buches ist zudem ein weiteres Chasarisches Wörterbuch, eine Chasarische Enzyklopädie mit den von Generation zu Generation vervollständigten Aufzeichnungen chasarischer Traumjäger. Letztere hatten das Ziel, alle Träume der Menschen "zum himmlischen Adam" zusammenzufügen, denn dieser "dachte auf die Weise, in der wir träumen".

Wenn hier von Personen die Rede ist, die sich gegenseitig träumen, von Menschenpaaren und Doppelgängern, von denen der eine wach wird, sobald der andere einschläft, erinnert dies an Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und Die kreisförmigen Ruinen von Jorge Luis Borges, wenngleich dieser Faden bei Pavić noch viel weiter gesponnen wird. In der ersten dieser beiden Erzählungen schlägt Alfonso Reyes eine Reproduktion der fehlenden Bände einer Enzyklopädie des imaginären Planeten Tlön vor und der Erzähler erwähnt eine Enzyklopädie mit der Beschreibung eines falschen Landes. Eine diesbezügliche Hommage durch das Chasarische Wörterbuch ist offensichtlich, auch dann, wenn die Welt auf Tlön als eine rein zeitliche und nicht räumliche beschrieben wird und die Chasaren hingegen sich selbst die Zukunft nur im Raum vorstellen und niemals in der Zeit.
Ein weiterer Bezug – mit oder ohne Umweg über jenen blinden Bibliothekar – gilt der Kabbala, wobei im Gelben Buch das himmlische Alphabet und die Geschichte von Adam Kadmon mit der vom Golem verbunden wird. Auch anderes mutet inspiriert an, doch wurde dort das Vorbild trefflich umgestaltet. So gibt es in Herzmanovskys Erzählung Cavaliere Huscher oder von Ybs verhängnisvolle Meerfahrt in einem Hotel eine kleine Kiste, worin sich in einem Abgrund das Meer befindet. Der chasarische Tonkrug ist damit verwandt. Wer in ihn ein Steinchen wirft, kann bis siebzig zählen, bevor ein Aufklatschen zu hören ist, als sei etwas ins Wasser gefallen, und dazu wird eine Parabel erzählt. Eine ähnliche Verschiebung der realen Daseinsebene erlebt – ebenfalls im Gelben Buch – Samuel Koën im Haus der Frau Efrosinija, wo hinter den Säulchen einer Wand das ferne Meer nicht liegt, sondern aufrecht vor ihm steht, und auch diese Geschichte geht natürlich weiter. Von einer originellen Form der Zeitreise erfahren wir indes, wenn Akschani Jabir Ibn 1699 in Konstantinopel einige Augenblicke seinen Kopf in einen Zuber taucht, um seinen Zopf zu waschen, und sich nach dem Auftauchen vor dem Waschbecken eines Istanbuler Hotels des Jahres 1982 befindet.

Das Chasarische Wörterbuch ist eine Mischung aus Fiktivem und Authentischem. Kyrillos, der tatsächlich den Chasarenhof zu jener Zeit besuchte, spielt seine Rolle, und Isaac Sangari erhielt ebenso einen Eintrag wie der für sein Buch der Chasaren bekannte Jehuda Halevi und dessen Übersetzer Judah Tibbon sowie der arabische Chronist Al-Bakri. Ein Joannes Daubmannus war Mitte des 16. Jahrhunderts Drucker in Königsberg, und 1691 könnte ein Nachfolger unter seinem Namen noch dort tätig gewesen sein. Die Übergänge zwischen dem, was war, und dem, was aus der Luft gegriffen oder schlicht unmöglich ist, sind fließend, und beides wirkt gleichermaßen fabulös. Mit Ausnahme der Briefe von Dr. Dorothea Schulz ähnelt die Diktion in ihrer Leichtigkeit der eines mündlichen Erzählers. Dies ist eine Sprache, die zu ihrem Gegenstand passt.
Die Welt der Chasaren und ihrer Wörterbücher ist eine wunderliche. Zahlreicher als üblich sind die sprachlichen Geschlechter, die Sorten Salz auf einem Tisch und die Fliegen auf weißen Pferden, während andere Übertreibungen die Zeit, eine Fähigkeit oder andere Darstellungen betreffen. Gewohnte Richtungen und Reihenfolgen werden umgekehrt. Wir erleben Anthropomorphismen und Zoomorphismen in vielfältigen Varianten wie in den Parabeln mit den Affen und dem Puma, in deren Zentrum jeweils ein Gedanke steht, oder wenn es zu Kyrillos heißt: "Doch die slawische Sprache war derart wild, dass die Tinte sie nicht zu halten vermochte, und er formte daher ein zweites Alphabet mit gitterartigen Buchstaben, und darin sperrte er diese widerspenstige Sprache wie einen Vogel ein." Verkörperlicht werden Gefühle, Zeit, Tod, Seelen, Träume und andere Abstrakta, aber auch entfremdet und entkörperlicht wird hier mitunter. Körpermerkmale, die an Missbildung denken lassen, erleben wir als vorteilhafte Eigentümlichkeiten, und selbst Wandlungen wie die von den Menschen, die an einem Ort der chasarischen Residenz aneinander vorübergehen und dabei "wechselseitig Namen und Schicksal des anderen übernehmen und das Leben in getauschten Rollen fortsetzen, als hätten sie die Mützen getauscht", sind in solch einem Umfeld plausibel. Bildhafte Vergleiche sind allgegenwärtig in diesem Lexikonroman und Widersprüchliches ist eher Teil einer Regel als die Ausnahme.

Bei aufmerksamer Lektüre fällt auf, dass zwar alle Religionsvertreter seitens des Erzählers (oder der Erzähler) mit Sympathie behandelt werden, aber der serbische Chasarenforscher Dr. Isajlo Suk 1982 eine Hegemonie dreier Internationalen beklagt: der hebräischen, der islamischen und der katholischen. Die zur Chasarenzeit mit der römischen Kirche ebenbürtige Ostkirche hatte längst deutlich an Gewicht verloren, und in der Aussage Suks spiegelt sich, was Chasaren im 9. Jahrhundert empfunden haben mochten, als sie von christlich-orthodoxen und islamischen Mächten umgeben waren. "I am the last Byzantine", sagte Pavić 1998 in einem Interview mit Thanassis Lallas und es ist sicherlich kein Zufall, dass in diesem Wörterbuch Träume eine große Rolle spielen.
Prinzessin Ateh, die Schutzherrin der Traumjäger, hatte einst befohlen, die Grenzsteine solange zu tragen und in der Luft lassen, bis man entschieden habe, was mit dem eigenen Glauben geschehen solle. Wer hofft nicht, dass diese Praxis nicht wieder aufgenommen wird?

Pavićs deutscher Verlag hat seine Bücher schon vor geraumer Zeit aus dem Programm genommen, dagegen ist die englische Übersetzung des Chasarischen Wörterbuches nach wie vor lieferbar, und in Frankreich erschien jüngst eine neue Ausgabe. Letzteres gilt auch für Südkorea, um den hiesigen Verlagen ein weniger naheliegendes Beispiel zu nennen.


John Barth: Der Tabakhändler

Auf den Winden des Höllenschlundes


Von Darius Amberger, 31. März 2018

In lockerem Ton, leicht an die barocke Sprache jener fernen Jahre angelehnt, schildert der Erzähler die Geschichte Ebenezer Cookes, eines naiven Helden, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts Hals über Kopf von einem Abenteuer – um nicht zu sagen Missgeschick – ins nächste stürzt. Die wechselhafte Handlung führt zu einer Vielfalt an Konstellationen, die, wenn auch überspitzt, oft Altbekanntem ähneln. Bei einschlägiger Belesenheit sind Bezüge auf Fieldings Tom Jones, Voltaires Candide, Smolletts The Adventures of Roderick Random und The Adventures of Peregrine Pickle, Defoes Moll Flanders und Robinson Crusoe und Sternes Tristram Shandy erkennbar, um nur die naheliegendsten zu nennen. Auch der weniger bekannte Captain John Smith und Teile seiner Generall Historie of Virginia, New-England, and the Summer Isles sowie die darauf basierende Literatur werden ins Geschehen eingeflochten.
Anhand letzterer Geschichte lässt sich ermessen, worum es den Autor mit den Bezügen gehen mag: Während bei John Smith von einer Liebesbeziehung zwischen ihm und Pocahontas nirgendwo die Rede war, wurde zweihundert Jahre später mit den Büchern von John Davis eine Romanze zwischen ihnen zum Teil der Pocahontas-Legende. Bei Barth wird in einem von Ebenezer Cooke gelesenen Journal die Geschichte recht unromantisch weiter sexualisiert, was im Kontext des Romans als Satire auf die Legendenbildung verstanden werden kann.
Die meisten der genannten Vorlagen sind jedoch selber schon Satiren, die bei Barth ihrerseits noch einmal überzeichnet werden. Diese Satiren werden somit parodiert, beginnend mit The Sot-Weed Factor, einer Anfang des 18. Jahrhunderts erschienenen Satire von Ebenezer Cooke. Ein Vierteljahrtausend danach übernimmt John Barth Name und Motive jener Dichtung und macht Ebenezer Cooke zur Hauptfigur eines Romans, in dessen Nachbemerkung jede Ähnlichkeit der auftretenden Gestalten mit lebenden oder verstorbenen Personen als rein zufällig bezeichnet wird.

Barths Der Tabakhändler ist die Geschichte eines jungen Mannes, der von London nach Maryland reist, um sein väterliches Erbe anzutreten und eine Marylandiade zu schreiben, und es ist eine Geschichte von Wandlungen und Anverwandlungen: die Übernahme der Identität der Hauptfigur durch andere, die Namens- und Rollenwechsel des ehemaligen Cookeschen Hauslehrers Henry Burlingame und weiterer Figuren, die Wandlungen von Maryland und der vom Vater geerbten Plantage Malden sowie die Umgestaltung von Motiven der erwähnten literarischen Vorgänger. Im Verlauf der Überfahrt und später im "auf die schwarzen, unermesslichen Winde des Höllenschlundes gebauten Maryland" trifft Ebenezer ein halbes Dutzend ihm bereits in London nahestehender Personen wieder und an verschiedenen Orten entpuppen sich neue Bekannte als alte, obwohl man sich bei seiner Einfalt nicht immer sicher sein kann. Was Ebenezer sieht und erfährt, wird wiederholt in Zweifel gezogen, auch wenn dessen eigene Irritation allenfalls von kurzer Dauer ist, zu sehr ist er auf sein Dasein als Poet fixiert, zu leichtgläubig ist er seinem Wesen nach. Die Desillusionierung folgt erst spät, und statt das geplante Loblied fortzusetzen, beginnt er Maryland in hudibrastischen Versen zu geißeln.
Wenn Ebenezer über das Gedächtnis sagt, "es ist der Faden, der alle Perlen zu einem Halsband verknüpft oder – wie der Faden, den Ariadne dem undankbaren Theseus gab – mir meinen Pfad durch das Labyrinth des Lebens weist, mich mit meinem Ausgangspunkt verbindet", lässt sich dies ebenso wie die Skepsis Burlingames auch auf schriftlich Überliefertes beziehen. Ebenezer Cooke ist über weite Strecken die Unschuld in Person, in mehrfacher Bedeutung.

Die im Roman bevorzugten Sprachfiguren sind die Personifikation, die Metapher, die Übertreibung und der Vergleich – Stilmittel, die hier häufig nonchalant und originell verwendet werden: "Was meine Jungfernschaft betrifft, so ist sie für mich nur wie ein Champagnerkorken, der knallen muss, eh das Vergnügen losgeht." Erotik und sexuelle Gewalt sind wiederkehrende Sujets und kommen ähnlich exzessiv ins Spiel wie Darmausscheidungen. Letztere setzte einst Rabelais satirisch gegen die päpstliche Kirche ein; bei Barth hingegen dienen diese Elemente sowohl dem Nihilismus als auch der Unterhaltung, wobei der Humor entsprechend dunkel ist.
In den Dialogen des amerikanischen Originals wird ein partiell veraltetes und daher den Lesefluss bremsendes Englisch gesprochen. So sagt beispielsweise Ebenezer über die Größe eines Fürsten "Nay, I say 'tis not in the deeds his greatness lies, but in their telling", wohingegen Susanna Rademacher in ihrer deutschen Übersetzung solche Besonderheiten herausgebügelt hat. Anderswo war schlicht kein deutsches Wort zu finden, wie schon im ersten Absatz, als aus einem "rangy, gangling flitch" ein "langer, schlaksiger Jüngling" und aus "with Joves and Jupiters" "von Zeusen und Jupitern" wurde. In diesem Roman, wo Wortspiele nicht selten sind, dürften derartige bei Übersetzungen kaum vermeidbare Verluste nicht unerheblich sein, doch tut dies der Virtuosität im Ganzen keinen Abbruch.

Die Identitäten der Figuren in Der Tabakhändler sind vor allem literarische und sie erscheinen oftmals als Varianten. Die Gesichter Ebenezers und seiner Zwillingsschwester Anna werden – in diesem Fall auch naheliegend – als Abwandlungen ein und desselben Gesichtes beschrieben, sie als Schönheit und er als glotzäugige Vogelscheuche, "so wie ein gescheiter Schriftsteller mittels kleiner Verschiebungen einen schönen Stil parodiert". Parodie und Parodiertes lieben hier einander.
"Der Dichter braucht sich überhaupt nicht um Erklärungen zu bemühen: die Menschen glauben, er hätte den Schlüssel zur Schlafkammer der Dame Wahrheit und lächelte über die Gelehrten, die im Hof Leitern an ihr Fenster stellen. Höflichkeit und Vernunft, wie Ihr sie predigt, sind des Dichters schlimmste Feinde; er muss die Damen in den Busen kneifen und die Schulmeister am Bart ziehen." Dies sagt der vormalige Diener Bertrand an Bord der Poseidon, nachdem er Ebenezers Rolle übernahm. Auf der Suche nach dem Inhalt jener Kammer wünsche ich dem Leser viel Vergnügen.


Italo Calvino: Der Ritter, den es nicht gab

Mit der Kraft seines Willens

Von Darius Amberger, 27. März 2018

In der christlichen Ikonographie ist die Maske ein Symbol des Bösen und der Lüge. Deshalb die Teufelsmaske, und da seit Augustinus das Böse als Mangel an Gutem, als etwas ohne eigene Substanz verstanden wurde, war die Maske beim Teufel selbst – welche Gestalt dieser auch annehmen mochte – jederzeit leer.
Das Wesen, um das es im vorliegenden Roman geht, ist ein tugendhafter Ritter namens Agiluf, der redet, sich bewegt und eine Rüstung trägt. Diese Rüstung aber ist leer, als wären jene Tugenden ebenso substanzlos wie anderswo das Böse. Doch im Gegensatz zum Teufel hat Agiluf niemals rebelliert. Er glaubt an die heilige Sache. Jedes Gesetz, jedes Reglement, jedes Zeremoniell, selbst den unsinnigsten Befehl befolgt er bis ins Kleinste. Naturgemäß fehlt es ihm an Wärme, und die anderen Personen – mit Ausnahme des Bluträchers Rambald und der Amazone Bradamante – meiden ihn. Sogar der Kaiser macht sich lustig über diesen Ritter, der mit der Kraft seines Willens seinen Dienst verrichtet und der nicht mehr als eben dieser Wille ist, einen Mann, der überhaupt erst entstand, weil ein verflüchtigter, von anderen nicht genutzter Wille sich an einem Punkt zusammenballte. Dass ein aus reinem Willen bestehender Ritter genauso ohne Schlaf auskommt wie der für das Böse stehende Teufel, ist nur konsequent.

Agiluf repräsentiert nicht den typischen, Anfang des 9. Jahrhunderts lebenden Ritter. Das gesamte Personaltableau nimmt Bezug sowohl auf die klassischen Ritterromane als auch auf deren ironische und parodistische Nachfolger, und die Authentizität der Erzählung wird wiederholt infrage gestellt, etwa wenn der Ritter Torrismund erklärt: "Fahnen, Dienstgrade, Zeremonien, Namen . . . eine ganze Parade. Die Schilde mit den Wappen und Wahlsprüchen der Paladine sind nicht aus Eisen: Sie sind aus Pappe, und du kannst von der einen zur anderen Seite den Finger durchstecken." Sie sind nicht nur aus Pappe, sie sind aus Papier, "solo carta" ist im italienischen Original zu lesen und nicht "cartone". Anders als sein britischer Kollege mit "they're just paper" hat sich der deutsche Übersetzer Oswalt von Nostitz hier für eine nicht unerheblich Änderung entschieden.
Anachronismen wie "Papier" bzw. "Pappe" im damaligen Europa sind gleichfalls ein Beitrag zur Hinterfragung der Glaubwürdigkeit, und bemerkenswert ist, dass selbst Theodora "alte Papiere" als eine ihrer Quellen nennt.

Der historische Hintergrund mit den Heeren Karls des Großen und der Sarazenen entspricht dem im Rasenden Roland, wo auch eine kriegerische Bradamante eine Rolle spielte, und der mit geistiger Kraft idealistischen Tugenden folgende Agiluf erinnert stark an Don Quijote. Zwar hat Agilufs Knappe vor lauter Bodenständigkeit die eigene Identität verloren, doch als groteskes Duo stecken sie nicht zurück. Der Name Rambald hingegen – bzw. Rambaldo im italienischen Original – könnte dem italienisierten Namen des Troubadours Raimbaut d'Aurenga entliehen sein und der Name der vermeintlichen Mutter des Engländers Torrismund von der christlichen Jungfrau Sofronia in Tossos Das befreite Jerusalem, worin mit der Kriegerin Clorinda ebenfalls ein Abkömmling der Bradamante des Rasenden Rolands zu finden ist.
Losgelöst vom sonstigen historischen Geschehen sind Gralsritter "wie Halbentschlummerte" mit frommer Andacht beschäftigt, wenn sie nicht raubend und brandschatzend durch umliegende Dörfer ziehen. Im Kontrast zum unsichtbaren Ritter haben sie und ihr mumiengleicher König jeden eigenen Willen verloren. Es ist der Gral und dessen heiliger Zorn, der ihre Schwerter führt.

Erzählt wird die Geschichte – deren Handlung ich wiederzugeben meide – von der bereits erwähnten Ordensschwester Theodora. Ihr Ton ist locker und von fast märchenhafter Einfachheit, die Worte auf das Wesentliche konzentriert. Bewusst ironisch wird sie nur, wenn sie über sich und ihre Situation beim Schreiben Auskunft gibt: "Abgesehen von den religiösen Pflichten, den Triduen und Novenen, von Feldarbeiten, vom Dreschen, von Weinlesen, Stäupen der Knechte, Blutschande, Feuersbrünsten, Exekutionen am Galgen, Einbrüchen fremder Heere, Plünderungen, Vergewaltigungen, Pestilenzen haben wir nie etwas erlebt."
Als Grundlage dienen ihr Klatschgeschichten, Zeugnisse von Leuten, die dabei gewesen sind, und was sie nicht weiß, so schreibt sie, versuche sie sich vorzustellen. Eine Überraschung dazu hält die Ordensschwester auch parat und damit ist nicht ihre vertrauliche Anrede des Buches gemeint. Als Chronistin ist sie lernfähig, aber nicht perfekt:
"Jetzt zeichne ich hier im Meer die Feluke. Ich mache sie etwas größer als das erste Schiff, damit es nicht wieder zu einer Katastrophe kommt, selbst wenn man einem Walfisch begegnen sollte. Mit dieser gekrümmten Linie trage ich die Route des Schiffes ein, das ich bis zum Hafen von Saint-Malo führen möchte. Leider Gottes ist nur hier, auf der Höhe des Golfes von Biskaya, ein solches Gewirr sich überschneidender Linien, dass ich die Feluke lieber etwas weiter oben, erst hier und dann dort, fahren lasse, und da – der Teufel soll's holen! – läuft sie doch tatsächlich auf die Riffe der bretonischen Küste auf!"

Neben der Wiedergabe von Realität durch Literatur werden im Roman auf vielfältige Weise Fragen der Identität thematisiert. Über Agiluf, den unsichtbaren Ritter, und Gurdulú, der sich einbildet, jeweils das zu sein, was er gerade sieht, stellt der Kaiser einmal fest: "Dieser mein Untertan ist, bringt es aber nicht fertig dazusein, aber dieser mein Paladin bringt es fertig dazusein, aber dafür ist er nicht." Beide haben ein Identitätsproblem und beide ergänzen sich, weshalb der Kaiser den einen zum Knappen des anderen macht. Zudem ist Gurdulú an jedem Ort, an dem er auftaucht, unter einem anderen Namen bekannt. Abgesehen von seinem grundsätzlichen Defizit muss sich Agiluf schon bald um die Legitimität seines Titels sorgen ("Mein Name ist das Ziel meiner Reise."), während Torrismund die Frage der eigenen Abstammung zu klären sucht. Und dann sind da noch die Gralsritter, von denen der Gral Besitz ergreift.

Die handelnden Personen werden dargestellt als das, was sie sind: als literarische Figuren. Sie bleiben auf Distanz und lassen sich eher analytisch als emotional betrachten. Das häufigste Gefühl beim Lesen ist eines der Erheiterung. Physiognomien werden kaum beschrieben. Die Plastizität der Akteure ist die ihrer Rolle und des jeweiligen Kostüms und dennoch wirken sie – abgesehen von den Rittern des Heiligen Grals – erstaunlich lebendig.
John Barth nannte Calvino "a Borges con molto brio: lighter-spirited than the great Argentine, often downright funny (as Sr. Borges almost never is), yet comparably virtuosic in form and language," und dieser parodistische Roman, der zur Trilogie Unsere Vorfahren gehört, ist sicher einer, den der Argentinier nie hätte schreiben können.


Philip Roth: Sabbaths Theater

Die Rolle des schmutzigen alten Mannes

Von Darius Amberger, 24. März 2018

Ich gebe zu, dass ich nicht wenige Bücher allein deshalb nie in meine Hände nehme, weil mir der Einband missfällt. Bei Sabbaths Theater stehen mehrere zur Auswahl und die passablen sind neben denen der amerikanischen Erstausgabe die, die dieser ähneln, und auf denen ein Ausschnitt eines Matrose und Mädchen-Bildes von Otto Dix zu sehen ist.
Bissige Überspitzungen, hervorbrechende Farben, ein kritischer expressiver Realismus, das Widerwärtige mit ästhetischem Reiz und doch als eine Mahnung – dies waren Markenzeichen jenes Malers. Er vulgarisierte. Er provozierte. Er polarisierte. Kunstpapst Meier-Graefe fand sein Hauptwerk Der Schützengraben zum Kotzen. Das war 1924. Gut siebzig Jahre später erschien mit dem oben erwähnten Coverbild ein Roman, den die einen in höchsten Tönen lobten und andere . . . nein, zum Kotzen nannten sie ihn nicht, dafür hieß es über ihn, er sei "dull and offensive" mit "not a shred of originality" (Jonathan Yardley, Washington Post), "sour, nasty, lugubrious, distasteful and disingenuous" (Michiko Kakutani, NYT) und "inhaltlich seltsam antiquiert, formal erstaunlich missraten" (Denis Scheck, Focus).

Besessenheit ist ein nicht seltenes Sujet, sei es die eines Spielers, eines Sammlers, eines Künstlers, eines Forschers oder eines Sportlers, und auch die Sexbesessenen haben in dieser Reihe längst reichlich Platz gefunden. Anders als in Klassikern von Bataille, Miller und Réage stehen in Sabbaths Theater sexuelle Obsessionen und ihre fatale Folgen für die Hauptfigur beinahe gleichgewichtig gegenüber – ein Thema, das drei Jahre später auch Michel Houellebecq in Elementarteilchen aufgreifen wird.
Für Mickey Sabbath gehört zu jenen Folgen im Laufe seines Lebens eine Verhaftung mit nachfolgendem Prozess, der Verlust seiner Stelle an einem Kunst-College, der Alkoholismus seiner Frau Roseanna sowie deren Entfremdung und vermutlich ebenso das spurlose Verschwinden seiner ersten Ehefrau Nikki, deren größte Stärke für ihn das Nachgeben war. Während der Leser Zeuge eines selbstzerstörerischen Prozesses wird, ist Sabbaths Augenmerk primär auf seine sexuelle Begierde gerichtet. Diese füllt sein Leben aus und somit große Teile des Romans. Im Grunde kann jeder Leser für sich selbst entscheiden, welches Geschehen er wie hoch gewichtet. Seitens des Erzählers wird nicht moralisiert. Eine klare Haltung diesbezüglich ist bei ihm nicht erkennbar. Stattdessen lässt er Sabbath und seine Geschichte sprechen.

Wie bereits zitiert, hat Denis Scheck den Roman formal erstaunlich missraten genannt. Er schrieb: "Trotz aller gelegentlich aufblitzenden Virtuosität will der Wechsel zwischen innerem Monolog und einem Erzählen in der dritten Person nicht gelingen." Ich las Sabbaths Theater als personale Er-Erzählung, bei der das Geschehen aus Sicht der Hauptfigur betrachtet wird. Der Leser ist mal mehr und mal weniger nah an Sabbath dran, doch ein gewisser Abstand wird nie ganz verschwinden.
Sabbath ist ein sexgetriebener Egomane. Selbst mit vierundsechzig, äußerlich verwahrlost und von Arthritis gezeichnet, sind sein Handeln und seine Reflexionen entsprechend ausgerichtet. Daneben werden in den Erinnerungen lediglich der eigenen Kindheit am Atlantik – wo man "mit den Zehen fühlen konnte, wo Amerika anfing" – bedeutsame Räume voller realistischer Details gewährt. Er vermag rhetorisch zu "bestechen", und für den ehemaliger Puppenspieler und Theaterregisseur ist Theatralik zu einem Teil seines Wesens geworden, eine Theatralik, die auch vom Erzähler oft verwendet wird, beginnend mit dem Ultimatum Drenkas in der Eröffnungsszene.

Sabbaths Rhetorik brilliert, obwohl sich diese auf wenige Stilmittel beschränkt. Neben der Hyperbel fällt ein Faible für eine zumindest scheinbar gegenteilige Logik auf, bis hin zum letzten Absatz des Romans. Auch liebt er provokante Vergleiche. Zu Ironie greift er nur vereinzelt. Sein Witz und seine Augen sind – wie der Erzähler schreibt – sardonisch. Seine Gesinnung ist die eines Zynikers, einer, der ungewöhnlich vital und leichtfüßig wirkt, besonders in den Dialogen. Als Beispiel Auszüge aus einem Gespräch mit Madeline, Mitpatientin in einer Entzugsklinik, in der er seine Frau besucht, mit anschließendem Wechsel in den inneren Monolog:
"'Aha. Das ist also ein Flirt. Ich hab's fast gedacht, konnte es aber nicht glauben. Haben beschädigte Frauen einen besonderen Reiz für Sie?'
'Ich wusste gar nicht, dass es auch andere gibt.'
[...]
'Ich habe noch nie mit einem Mädchen geschlafen, das versucht hat, sich umzubringen."
'Dann schlafen Sie mit Ihrer Frau.'
'Das wäre leicht daneben.'
Jetzt klang ihr Lächeln geradezu verschlagen, welch reizende Überraschung."

Generell fällt auf, dass die wichtigsten Nebenfiguren Sabbath rhetorisch durchaus gewachsen sind, selbst seine als anonyme Alkoholikerin verspottete Frau Roseanna, als er sie fragt:
"Was ist bloß aus der Roseanna Cavanaugh geworden, die noch selbständig denken konnte?"
"Ach die? Die hat Mickey Sabbath geheiratet. Damit war die Sache erledigt."
Dem Egomanen Sabbath steht zudem bisweilen ein anderer Sabbath gegenüber, etwa wenn er reflektiert: "Sabbath findet seinen Meister: das Leben. Die Puppe bist du selbst. Der alberne Hanswurst bist du selbst. Du bist der Kasper, der Trampel, die Puppe, die Tabus zum Spielzeug hat!"

Was uns in Sabbaths Theater präsentiert wird, ist kein schmutziger alter Mann, sondern die Rolle eines schmutzigen alten Mannes, und wie in jedem guten Theater, ist das Entscheidende das darstellerische Wie. Um eben diese Form geht es in jeder Kunst und wer an solcher interessiert ist, dem sei versichert: Sowohl Sabbath als auch der Erzähler und der Autor dieses Buches sind darin große Meister.
Mit Mickey Sabbath wurde ein famoser Charakter geschaffen, und Leser, die mit Philip Roth vertraut sind, werden sich fragen, wieviel vom Autor darin steckt. Parallelen biografischer Natur lassen sich nicht bestreiten, doch entscheidend ist hier ebenfalls die Form. Auf dem ausschnittsweise im besagten Coverbild verwendeten Gemälde trägt das abstoßend dargestellte Mädchen das Tattoo eines Ankers auf der Brust, und Otto Dix sandte 1920 an Behrens-Hageler eine Postkarte mit einem Foto, auf dem derselbe Anker auf dem Rücken seiner linken Hand zu sehen ist. Dieses Foto existiert auch ohne jenen Anker auf der Hand und ohne Schmuck am Ohr des Malers.


Robert Coover: Ghost Town

Der Western als Fata Morgana


Von Darius Amberger, 19. März 2018

Coovers Anfänge als Autor hängen mit seiner intensiven Beschäftigung mit dem Werk Becketts im Sommer 1957 zusammen und noch achtundfünfzig Jahre später nannte er den Iren seinen "primary inspirer". So wie die Werke des Letzteren nicht zuletzt von Alltagssprache handeln, befasst sich Coover in seinen Romanen und Novellen mit Literatur und deren Strukturen. Konventionelle Erzählweisen werden von ihm parodiert. 1986 wählte er als Gegenstand den Kriminalroman (Gerald's Party), 1991 und 1996 die Gattung des Märchens (Pinocchio in Venice und Briar Rose) und 1998 . . .

"Bleak horizon under a glazed sky, flat desert, clumps of sage, scrub, distant butte, lone rider."
So beginnt ein Western, nur geht es nachfolgend weder um die Expansion nach Westen, noch liegt es in der Hand des Reiters, ob er ein Ziel erreicht. Die Stadt, auf die er zureitet, weicht ihm aus – "His goal is more like the memory of a goal" –, überholt ihn von hinten und wälzt sich schließlich unter die Kufen seines Pferdes. Die für das Genre typische einsame Kleinstadt ist von mehr als dem üblichen Staub bedeckt, die Häuser verschieben sich "like wagers on a faro table", und während traditionsgerecht das Gute und das Böse aufeinandertreffen müssten, wird hier eine Polarisierung durch die Rollenwechsel jenes Helden ausgehöhlt. Die "kid" genannte Figur – "Won't ever be anything else" – erinnert an Coovers 1972 uraufgeführten und sich auf Billy the Kid beziehenden Einakter The Kid, worin ein Sheriff seine Rolle tauschen muss, und an die ebenfalls als "kid" bezeichnete namenlose Hauptfigur in Cormac McCarthys Blood Meridian (1985), doch trägt in Ghost Town niemand einen Namen, bis hin zum Pferd des Jungen: „Ifn he does, he never tole it to me.“

Auch das Innenleben der Figuren wird vernachlässigt, stattdessen ist die Verfremdung allgegenwärtig, kein Archetyp, kein Requisit und kein Klischee des Genres wird verschont: der einsame Cowboy in der Wüste, Pferde, Siedler, Rinder, die Symbolgestalt des Sheriffs, der Galgen, Schlägereien, Schießereien, die Schwingtür des Saloons, der Klavierspieler, die Salonsängerin, die Schullehrerin, Goldgräber, Indianer, messerstechende Mestizen, Banditen, Alkohol, Schändung, Skalps, Lynchjustiz, ein Zugüberfall, ein Schlangenbiss . . . Die wechselnde Handlung ähnelt altbekannten Mustern, die bei Coover allesamt gebrochen werden, etwa wenn der Held mit einer Bande Outlaws einem Zug auflauert, sich mit seiner schwarzen Stute auf das Gleisbett stellt, um den Weg des Zuges zu blockieren und "also to nail the skittery rails in place", aber der Zug über ihn hinwegdonnert und wieder verschwindet, derweil er noch immer auf dem Gleisbett steht. Die Parodie wird derart auf die Spitze getrieben, dass kein Plot den Leser einzuwickeln, keine der Figuren seine Empathie zu wecken sucht. Gerade weil sie maßlos übertrieben werden, bleiben die handelnden Personen uns physisch fern. Wir sehen nicht den Menschen, wir sehen nur das überhöhte Bild und haben keine Chance zu glauben, dass es diese Menschen wirklich gab. Aber nicht allein diese Stadt in der Wüste und ihre Bewohner lassen an ein Trugbild denken. Die ganze Welt des Westerns erscheint als Fata Morgana, deren Variationen der Held durchlebt, in einer ausweglosen Schleife, deren Ende der Anfang sein könnte.
Als "characters who are not characters", wie Coover einmal Becketts Figuren nannte, könnte man auch seine eigenen bezeichnen. Während bei Beckett die Archetypen des Reisenden und Untätigen universale sind, beschränkt sich Coover hier auf das Genre Western. Allein sein Held erreicht Beckettsche Dimensionen, wenn er sagt, dass er keine Angehörigen habe, von nirgendwo komme, nur auf der Durchreise sei und "aint tryin t'git nowhars". Seine Grundhaltung ist apathisch ("He doesn't expect to come to the end of the world out here, but he doesn't expect not to.") und die Welt, in der er sich bewegt, ist die eines absurden Traums. Sie ist zeitlos und irreal. Sie ist "more like no place". "Yu'll never git thar, kid", wurde ihm vorausgesagt.

Die Sprache des Erzählers ist – wie die des erwähnten Inspirators – karg, auf ein Minimum beschränkt, und in den Dialogen kommt ein ausgeprägter Slang hinzu: "Mebbe these're jest more false tracks thet goldang train has laid down t'throw us offn its trail."
Zu den rhetorischen Kniffen gehören neben einer herkömmlichen Verwendung des Wie-Vergleichs die Übertreibung ("He is leathery and sunburnt and old as the hills. Yet just a kid. Won't ever be anything else."), die Belebung anorganischer Objekte wie Schienen oder einer Stadt ("He realizes that the town is leaving him and taking the day with it. The claim office, the jailhouse ruins, and steepled church are already some distance off, their long shadows darkening the desert. [...] The saloon is the last to go, as though overseeing the general retreat, and when it, too, is some distance away, the lace curtain in the upstairs window flutters briefly as though waving goodbye.") und, wenn auch nur vereinzelt, eine an Lewis Carroll erinnernde Entkörperlichung: "He removes his spurs so they will not betray him, and then, leaving his voice behind, rises silently from the chair so slip around behind the dealer."
"Terrortory", ein vorgeblich dem Slang geschuldetes Kofferwort wird mehrmals verwendet, unter anderem von einem alter Mann, der skalpiert, mit abgeschnittenem Arm und durchbohrt von sechzehn Kugeln, darauf verweist, wie wenig dort Worte zählen ("It's doin does the talking out here in the Terrortory, it's writ in the laws sumwhars"), und anschließend vom Bühnencharakter des Ganzen spricht: "It feels like the real McCoy but it feels like nuthin, too. [...] thet's jest whut it is, see, a stage".
Diese Bühne besteht seit anderthalb Jahrhunderten. Sie wurde durch Worte geschaffen und später durch Bilder aufgebessert.

Parodiert wird hier nicht der Wilde Westen, sondern das nach ihm benannte Genre. Bei Coover verschwindet jegliche Romantik aus den Bildern, und die damit verbundene Vorstellung vom Western wird abserviert. Schwer zu sagen, ob dies für Coover nur ein Spiel ist oder grundsätzliche Kritik dahintersteckt, aber die Wirkung ist eigentümlich subversiv.
Zu Tränen wird der Leser nicht gerührt. Dem Kunstvollen, dem nicht-trivialen ästhetischen Genuss lässt der Autor nichts im Wege stehen.


Cormac McCarthy: Die Abendröte im Westen 

Der Tanz des Kriegers

Von Darius Amberger, 14. März 2018

Dieser 1985 erschienene fünfte Roman McCarthys war sein erster Western, und um das Besondere an ihm aufzuzeigen, ist ein Vergleich mit Roa Bastos' elf Jahre zuvor veröffentlichten Yo, el Supremo hilfreicher als ein Vergleich mit traditionellen Vertretern des Westerngenres.
McCarthys Richter Holden und die Glanton-Gang sind an gleichnamige Vorgänger angelehnt, die in derselben Gegend und zur selben Zeit, in welcher der Roman spielt, als Skalpjäger umherzogen, und auch Roa Bastos hat sich an einem historischen Vorbild orientiert: an Rodríguez de Francia, der Paraguay in den ersten zweieinhalb Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit regierte. Sowohl der Richter als auch der Diktator sind außerordentlich gebildet; Letzterer sieht sich Fortschritt und Aufklärung verpflichtet und der als Outlaw umherziehende Richter ist Nietzscheaner. Beide werden wie mythische Gestalten dargestellt, beide haben abgründige Tiefe und bei beiden vertraut der Erzähler auf den mündigen Leser. Doch völlig anders als beim reflektierenden, von Selbstzweifeln geplagten Diktator wird beim Richter und den anderen Figuren der Abendröte das Psychologische weitgehend ausgespart. Trotz extremer Gräuel wird hier dem Leser kein Erklärungsmuster mitgegeben. Hier wird nichts entschuldigt. Während der Charakter des Diktators zunehmend komplexer erscheint, hat sich der Erzähler der Abendröte bei seinen Figuren auf Elementares und dessen ästhetische Wirkung beschränkt. Der Richter wird uns als Ereignis, als Erlebnis vermittelt, ein Zwei-Meter-Mann, "kahl wie ein Stein", erhaben wie eine Naturgewalt. Trotz intellektuellem Schnauzbart.

Der Roman folgt dem Lebensweg eines namenlosen Jungen, der 1849 mit sechzehn Jahren erstmals dem Richter begegnet. Dieser hatte gerade einen ihm völlig unbekannten Prediger beschuldigt, ein Hochstapler, flüchtiger Straftäter, Schänder eines elfjährigen Mädchens und Sodomit zu sein, worüber anschließend an der Bar wie über einen guten Scherz gelacht wird, und es ist eben diese Haltung, die konsequent den Verlauf der nachfolgenden Geschichte bestimmt, bis zum letzten Absatz, wo der Richter als "aller Liebling" tanzt. Der Junge, bereits zu Beginn mit einem "Hang zu sinnloser Gewalt" beschrieben, wird erst angesichts zunehmender Grausamkeiten gelegentlich ein anderes Verhalten zeigen.
Ein weltanschaulicher Opponent des Richters innerhalb der Gang, zu welcher der Junge stoßen wird, ist Tobin, ein ehemaliger jesuitischer Novize, der noch immer an die Stimme Gottes glaubt: "Wenn sie verstummt, sagte Tobin, dann merkst du, dass du sie schon dein ganzes Leben gehört hast." Doch auch seine Gedanken drehen sich meist um den Richter, der "einfach alles kann" und dessen Reden und Gebaren an Nietzsches antichristlichen Zarathustra erinnern, etwa bei seinem Lob des Krieges. Allein Zarathustra hatte noch ein Ziel: die Schaffung des Übermenschen. Für Richter Holden hingegen, der Züge dieses Übermenschen trägt, ist Krieg das höchste Spiel, denn Krieg stifte letztendlich die Einheit des Lebens. Diese "Einheit des Lebens" könnte sich auf das Sein und Nichtsein im Dao beziehen, nur dass der höchste Seinszustand des Richters keiner der Schöpfung, sondern des Krieges ist.

Exzessive Gewaltszenen prägen die gesamte Handlung des Romans und da der Erzähler auf jegliche Wertung verzichtet, trifft diese Gewalt den Leser direkt, ohne die übliche moralische Vermittlung. Die Wirkung, die daraus entsteht, wird verstärkt und zugleich seltsam gemildert durch die Ästhetik einer alttestamentarisch anmutenden Sprache. Die des Erzählers ist bildhaft, aber sachlich, eng an der Handlung orientiert und selten zur Übertreibung neigend. In den Dialogen fällt die Eloquenz des Richters auf. Rhetorisches Schmuckwerk wird von ihm anfangs sparsam, später aber konzentriert verwendet. Immer wieder ähnelt seine Ausdrucksweise der des originären Schnauzbarts: Mal apodiktisch-kraftvoll, mal gedanklich verquollen, etwa wenn er sagt, alle Spiele neigten zum Krieg, denn erst da werde alles vom Einsatz verschlungen, das Spiel und der Spieler, und wenn der Einsatz dort das Leben dieses Spielers ist.
Fast alle anderen Figuren dieser Männerwelt sind wortkarg wie klassische Westernhelden. Ausnahmen sind Tobin und ein ehemaliger Sklavenhändler, der verwahrlost im Grasland lebt. "Man schafft’s nie hinter die eignen Gedanken zu kommen, denn die sind’s ja grad, die man dazu braucht", sagt er zu dem Jungen – ein Satz, der nicht recht zu jenem Alten passt und der Wittgensteins "die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt" und Apels "Unhintergehbarkeit der Sprache" ins Gedächtnis ruft und zu allererst natürlich Nietzsche. Diesem wird im Englischen der Ausdruck "prisonhouse of language" zugeschrieben, dem eine weniger griffige Originalnotiz zugrunde liegt.

Abgesehen von Landschaften wird in diesem Western nichts romantisiert, niemand steht hier für das Gute, und nicht zuletzt durch seine historische Fundierung läuft dieser Roman auf eine Revision eines amerikanischen Mythos hinaus. Aber selbst, wenn man ihn als Anti-Western liest, ragt die Figur des Richters aus dieser Geschichte heraus. Im seinem letzten Gespräch mit dem zum Mann gewordenen Jungen spricht der Richter vom Tod als einer höheren Macht, die den Tanz orchestriere und jedem seine Rolle zuweise. In seinen Worten verdichten sich die biblischen Bezüge. Er redet von schlafenden Göttern der Rache und des Erbarmens, womit er wahrscheinlich zum einen den Gott des Alten und zum anderen den des Neuen Testamentes meint, und er artikuliert seine Nähe zu einem anderen Rächer, zu jenem, der nach dem eigenen Höllensturz die ersten Menschen zum Kosten vom Baum der Erkenntnis verführte, worauf Gott ihnen unter anderem die Sterblichkeit bestimmte: "Nur wer sich dem Blut des Krieges vollständig ergibt, wer am Boden der Hölle gelegen, das Grauen ringsum gesehen und schließlich begriffen hat, dass dies alles zutiefst seine Seele anspricht, nur der kann wirklich tanzen."
Vom Richter, der zuvor seinen Anspruch auf Erkenntnis betont und sich zuweilen in der Wüste wie ein Botaniker und Paläontologe betätigt, heißt es am Ende, dass sein Äußeres nach neunundzwanzig Jahren unverändert sei, er nie schlafe und sage, dass er niemals sterben werde.


Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien

Im Lauf der Schalmei

Von Darius Amberger, 10. März 2018

Man stelle sich einen deutschen Bundeskanzler vor, der sein Amt allein einer augenfälligen Übereinstimmung mit einem Automobil verdankt, oder einen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, für den die Wähler votierten, weil sie in ihm das Ebenbild einer Ente namens Dagobert erkannten. Im Reich der Tarocke wird in ähnlicher Weise verfahren, denn jährlich werden dort vier Personen zu Königen gewählt, die den Königen des Tarockspiels optisch am nächsten kommen. 1929 beendete Herzmanovsky-Orlando Das Maskenspiel der Genien, worin jenes Reich beschrieben wird. Der Roman ist der letzte seiner Österreichischen Trilogie und die Veröffentlichung im Original erfolgte erst sechzig Jahre nach der Niederschrift. Die vergebliche Suche nach einem Verleger könnte ein Grund für das Fehlen einer sorgfältigeren Überarbeitung seitens des Autors sein, der 1954 starb.

Wir erfahren von einer Reise Cyriakus von Pizzicollis, die ihn zunächst in das Reich der Tarocke führt, das er durch einen Schrank betritt – eine Zugangsart, die C. S. Lewis 1950 auch für den Weg ins Land der Narnia wählte –, und von dort weiter zu der durch Aphrodites Geburt bekannt gewordenen Insel Cythera, ein Ziel, das er mit mehreren Figuren teilt. Einen Hintergrund für das vornehmlich austriakische Gedränge Richtung Hellas liefert der Diplomat Streyeshand von Hasenpfodt, als dieser Cyriak im Vertrauen sagt: "Nur Österreich kann es – nur bei uns ist der letzte Hort des magischen Erbes Griechenlands, seit Byzanz, unser rechter Flügel, von unseren Feinden vernichtet wurde."
Den griechischen Mittelmeerraum hatte bereits der sich für die Überbleibseln der Antike interessierende Namensvetter Cyriacus von Ancona in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Ziel und je weiter die Hauptfigur dieses Romans reist, desto mehr vermischen sich die Zeitalter, aus denen sich intertextuelle Bezüge speisen, bis hin zu diversen Mythen. Eine der Anregungen zu diesem Werk dürfte der Roman Die andere Seite des befreundeten Alfred Kubin gewesen sein, worin die Hauptfigur ebenfalls in ein auf alt zurechtgemachtes Traumreich reist, wenngleich dort das Antiquierte schon bald bedrückend wirkt.

Bei Herzmanovsky trägt das Alte heitere Züge. Seine Figuren gehen zeitlich retour oder verharren, wo sie sind, darin bestärkt durch Profession und Steckenpferd. Rat Xaver Naskrükl ist Sammler von Raritäten wie Ignatius von Loyolas Bart, mit dem zuvor ein "altes Weiberl" die Lampen putzte, und Philipp Edler von Hahn ist nicht nur Sammler von Fehlwäsche, sondern handelt zudem mit Mehlwürmern und Teufelszwirn, denn:
"Hierzulande ist das reinste Paradies, da wächst alles von selber, ohne Düngung. Vor Iebermut wüßten ja die Landeskinder nicht, was sie tun sollen und kämen auf die unnützesten Dinge – Unzucht, Revolution, Verbrechen! No – da gibt ihnen die vorsorgliche Regierung ein bisserl Unkraut unter die Sämereien, die Leutln haben was zu tun – kleine Sorgen – und werden so vom größeren Unglück abgehalten."
Statt einer Entwicklung der Figuren erleben wir allenfalls Verwandlungen und Rollenwechsel auf jener Reise, so wie die von Cyparis vom trommelnden Knaben zur Barmaid und Anführerin einer Standarte eines Amazonenkadettencorps, einer "Figurantin der Commedia del marte", später zur Fürstin von Ikaria und schließlich zur Gefährtin von Artemis. Charakterisiert werden Figuren meist über ihre Redeweisen – wie etwa bei einem sich besonders umständlich ausdrückenden Sittenschnüffler –, durch ihr äußeres Erscheinungsbild und anhand der Tätigkeiten, denen sie sich widmen. Obwohl diese häufig höchst skurril sind, lassen sie – den jeweiligen Typus überspitzende – Eigentümlichkeiten erkennen, und das dialektale Idiom einiger Personen hat mehr Unterhaltungswert, als dass es schwer zu lesen wäre.

Den Roman durchzieht ein satirischer Ton, aber selbst dort, wo dieser fehlt, ist nicht immer sicher, ob sich hinter ernsten Worten oder schlichter Komik nicht anderes versteckt. Sowohl der Gestus des Erzählers als auch die seinem "Helden" begegnenden Personen haben etwas Spielerisches. Die Figuren werden weder vorgeführt, noch würden diese selbst ihr Handeln als grotesk bezeichnen. Bereits zu Beginn jener Reise sagt ein Dr. Nockhenbrenner:
"Ich sehe Ihnen an, mein Herr, dass Ihnen manches wunderlich vorgekommen ist, was sie in den letzten Stunden erlebt haben. Und doch geht's hier nicht um ein Grad wunderlicher zu als in irgendeinem andren Land. Die Vorgänge sind bloß kristallhafter herausgearbeitet, der neu angekommene Fremde distanzierter dazu gestellt, und die kleine Differentialkluft sozusagen lässt Ihnen alles in größerer Plastik erscheinen. Das ist wie beim Theater, das ja im Grunde geordnetere Wirklichkeit ist! Der Süden ist grotesk durch seine Unordnung, der Norden durch seine Ordnung. Wir Glücklichen halten die Mitte zwischen Narrenkappe und Pickelhaube!"
Uns von dem, was wir gewohnt sind, zu distanzieren, es uns auf neue, auf ästhetische Weise erfahrbar zu machen, ist – wie Ortega y Gasset 1925 schrieb – ein Merkmal von Kunst. Eben daraus resultiert ein Stil. Wenn beispielsweise das diktatorische Agieren des in der Hierarchie oberhalb der Könige stehenden Sküs "herausgearbeitet" wird, erhält das Absurde eine seinem Amt angemessene Dimension, wie dort, wo ein mittelalterlicher Herr über den Sküs berichtet, dass er das Meer zuschütten und die Häfen ins Hochgebirge verlegen lassen werde. Dass sich in dieser Szene darüber hinaus ein vager Bezug auf Afred Jarrys Dr. Faustoll und dessen Schiffsreise auf dem Lande erspähen lässt, sei nur am Rande erwähnt.

Die im Roman bevorzugten rhetorischen Figuren sind Übertreibungen und Oxymora, die das Bizarre von Begebenheiten, die Marotten von Exzentrikern oder ein Missgeschick zum Ausdruck bringen. Praktische Verwendbarkeit ist selten ein Kriterium, wie bei jenen Galoschen, deren Weite statt von einer Fußgröße vom Rang des betreffenden Prinzen abhängt, oder bei vier Rauchfängen, von denen zwei echt sind, während die anderen einer Kegelbahn beziehungsweise einem Blumenkiosk und einer Bedürfnisanstalt als Standort dienen. Erzählt wird in einer bildhaften Sprache, mal magisch-surreal, mal pittoresk-romantisch und mal rhetorisch ausgekocht barock, immer wieder finden sich manieristische Züge und auch der Gotik wird mitunter nachgetrauert, doch Cyriaks Ziel ist wie gesagt das alte Griechenland.
Die Struktur der Handlung ist keine sehr solide, da eine Überfülle von Geschichten oft nur dürftig durch den Werdegang der Hauptfigur zusammengehalten wird. Dies ist kein Bauwerk des Barock, das auf einem streng geometrischen Grundriss fußt. Überdies sind im Roman Kommentare und Erklärungen eingestreut, die vom Handlungsstrang ablenken und die sprachliche Leistung des Erzählers mindern. Gleichberechtigt neben anderen sind im Roman esoterische Elemente enthalten. Ausdrücklich thematisiert werden diese am Anfang durch einen entsprechenden Hinweis des Erzählers zum Tarockspiel, im mittleren Teil durch die Fürstin von Ikaria sowie gegen Ende durch einen schwarz maskierten Herrn und einen Mönch mit weißer Kutte. Ebenfalls in diese Richtung deuten, dass das Reich der Tarocke auch das Spiegelreich des linken Weges genannt wird und Die Spiegelwelt des linken Weges noch Anfang 1929 der von Herzmanovsky geplante Romantitel war. Eine diesbezügliche Auslegung des gesamten Romans wird dem Leser jedoch nicht aufgedrängt.

Zu diesem Roman existiert eine von Torberg bearbeitete und stark gekürzte Fassung, die sich flüssiger lesen lässt, aber eine Unmenge fragwürdiger Namens- und anderer Änderungen aufweist. Wenn, um nur ein einfaches Beispiel zu nennen, der Mehlwurmhändler Hahn mit Bezug auf China "unser größter Produzent" sagt, kann man davon ausgehen, dass es auch so gemeint war. Bei Torberg wurde "unser größter Konkurrent" daraus. Wer ein Buch Herzmanovskys kennenlernen möchte, greife daher zum Original. Wegen seines Einfallsreichtums, seines Humors und seiner Sprache ist dieser Roman denen zu empfehlen, die Literatur für eine Kunstform halten und die erwähnten Mängel tolerieren.


Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall

Wenn wir die Übertreibungskunst nicht hätten

Von Darius Amberger, 6. März 2018

Der Autor gehört zu den meistrezipierten der letzten Jahrzehnte und eine unbefangene Lektüre scheint hier kaum möglich zu sein. Bereits vor dem ersten Aufschlagen ist da das Gefühl, das Buch zu kennen, und auch der Tonfall des Erzählers – der in diesem Fall nicht nur als ein die Auslöschung schreibend festhaltender, sondern zugleich ein an der Auslöschung beteiligter agiert – ist ein von anderen Spätwerken Bernhards vertrauter. Allein die Atempausen zwischen seinen Sätzen sind noch kürzer geworden. Erzähler ist Franz-Josef Murau, dessen innerer Monolog im Rahmen einer in der Vergangenheitsform verfassten Niederschrift stattfindet, die in einen zusätzlichen, im Präsens artikulierten Rahmen eingebettet ist, in dem ein weiterer Erzähler wörtlich das von Murau Geschriebene wiedergibt. Wie schon bei seinen früheren erzählerischen Werken verzichtet Bernhard auf den Terminus Roman, als ginge es ihm darum, das Stigma der Fiktionalität zu meiden.

In der ersten Hälfte der Auslöschung befindet sich Murau in seinem römischen Arbeitszimmer, vor sich ein Telegramm, das über den Unfalltod der Eltern und des Bruders informiert, und ein paar Fotos der Familie, während er sich an die gemeinsam in Wolfsegg verbrachten Jahre und an damit verbundene Gespräche mit seinem Schüler Gambetti und seiner Freundin Maria in Rom erinnert. In der zweiten Hälfte beschreibt er seine Ankunft in Wolfsegg und die Ereignisse unmittelbar vor, während und nach der Beerdigung.
Wie in Der Untergeher und anders als in Alte Meister und Holzfällen sind im ersten Teil der Auslöschung die wichtigsten jener Personen, denen die Reflexionen des Erzählers gelten, abwesend. Seine Erinnerungen kreisen zwar in ähnlicher Weise wie bei den Erzählern der anderen Werke Bernhards in dessen später Phase, doch wirkt dies hier ermüdender, was dem Umfang jener Reflexionen geschuldet sein dürfte. Im Bau seiner Sätze aber zeigt der Autor die gewohnte Stilsicherheit und der zweite Teil der Auslöschung weist zudem weniger Längen als der erste auf, da die Gedankengänge aktuellere Bezüge haben und der innere Monolog Muraus von einer sich gemächlich entwickelnden Handlung begleitet wird.

Neben der Behandlung altbekannter Themen wie Tod, Krankheit, Religion, Politik und Selbstbetrachtung, urteilt auch dieser Bernhardsche Erzähler über diverse literarische Größen – was in Alte Meister die Rolle Stifters war, ist nun die von Thomas Mann und Goethe – und er äußert sich zur eigenen Ausdrucksart: "Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. [...] Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, nur die Übertreibung macht anschaulich."
Und weiter gegen Ende: "Der Maler, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Maler, der Musiker, der nicht übertreibt, ein schlechter Musiker, sagte ich zu Gambetti, wie der Schriftsteller, der nicht übertreibt ein schlechter Schriftsteller ist".

Übertreibung und Wiederholung sind jene Stilmittel, die in ihrer exzessiven Verwendung als für Bernhard typisch gelten, und wie nicht anders zu erwarten, prägen sie auch dieses Werk. In den meisten Sätzen ist zumindest eines davon zu finden. Die Wiederholungen beginnen häufig innerhalb eines Satzes, werden von nachfolgenden Sätzen aufgegriffen, gesteigert und auf andere Weise variiert. Mitunter taucht das Thema einige Seiten später abermals auf. In nicht wenigen Fällen wird einer Aussage im Anschluss eine konträre entgegengesetzt, zum Beispiel in Bezug auf Spadolini, oder der Erzähler wechselt von Invektiven gegenüber anderen zu nicht minder rigoroser und in ähnlichen Worten artikulierter Selbstkritik. Bemerkenswert ist, dass dank solch kunstvoller Wiederholungen sogar die misanthropischsten Reflexionen Muraus als harmonische Variationen wahrnehmbar sind und somit als ein Wohlklang, der an anderem geschulte Rezipienten langweilen könnte.
Auch scheinbar Widersprüchliches weiß er zu verpacken: "Maria, deren einzige Waffe schließlich immer das Zurückweichen gewesen ist." Doch fasst er es selten derart knapp in Worte wie in diesem Fall. Andere Stilmittel treten nur sporadisch auf, etwa wenn es in einer Mischung aus Synekdoche und Übertreibung heißt: "Und ich glaube sogar, nicht Churchill hat diese Memoiren geschrieben, sondern seine argwöhnisch vorgezogene Unterlippe, nicht Einstein hat diese weltbewegenden Sätze gesagt, sondern seine herausgestreckte Zunge." Oder wenn es zur metonymischen Personifikation von Fotografien kommt: "Jetzt hat das eine der zwei spöttischen Gesichter geheiratet".
Selbst die – trotz Benns Verdikt – von vielen Autoren übermäßig eingesetzten Wie-Vergleiche sind bei Bernhard spärlich gesät.

Ein wiederkehrender Gegenstand von Muraus Erinnerungen sind die Verstrickungen seiner Eltern mit dem Nationalsozialismus. In vielerlei Hinsicht stilisiert sich der Erzähler als Opfer des eigenen Milieus. Franz-Josef Murau ist eine Identifikationsfigur, die es dem Leser einfach macht, zu einfach. Wie anders würde ein Erzähler wirken, der sich weniger als der moralisch Überlegene präsentiert? Murau rechtfertigt sich mit den Worten: "Hätten wir den Hochmut nicht, wären wir verloren, er ist auch nichts anderes als ein Machtmittel gegen eine Welt, die uns sonst und also ohne diesen Hochmut mit Haut und Haaren verschlingen würde."
Ähnliches formuliert er gegen Ende seines Werkes zu einem Schlüsselsatz: "Das beobachtete ich immer wieder an mir, dass ich dann, wenn diese erbarmungslose Stimmung von mir gänzlich Besitz ergriffen hat mehr oder weniger, einfach nacheinander alle möglichen Leute hernehme, um sie zu zerlegen und in meinem Kopf niederzumachen, alles in ihnen zu zertrümmern, um mich zu retten, und von ihnen mehr oder weniger nicht das geringste Positive übrig zu lassen, um schließlich wieder aufatmen zu können."

Auslöschung gilt als Bernhards bedeutendster Roman. Davon abweichend glaube ich, dass Alte Meister und Der Untergeher ein höheres Maß an Meisterschaft erkennen lassen.


Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin

Eine Tochter, eine Mutter und die Norm

Von Darius Amberger, 28. Februar 2018

"Erika, die Heideblume." Letztere steht traditionell für Heimat und Romantik, aber auch für Einsamkeit. Sie wächst auf Flächen, die einst als Schlachtfeld taugten, und soll gefärbt sein vom Blut der Kämpfer. Elfriede Jelinek bezeichnete Erika einmal als eine Figur, die sie selbst zum Teil gewesen sei, und das von ihr handelnde Buch, worin es primär um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter geht, als unverblümt autobiographisch. "Sehr autoritär und wahnsinnig lustfeindlich" nannte sie ihre Mutter in einem Gespräch mit Georg Biron ein Jahr nach Erscheinen dieses Romans, in dem die Mutter bereits auf der ersten Seite als "Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person" auftritt.

Nach "längst begrabener Pianistinnenkarriere" unterrichtet die 36-jährige Erika Kohut am Konservatorium und teilt Wohnung und Ehebett mit ihrer Mutter, die das Leben der Tochter strengstens kontrolliert. Nächtliche Ausflüge in Peep-Shows und den Prater – wo sie ihrem Voyeurismus frönt – sind ihre einzige Abwechslung, bis es zu einer Annäherung seitens eines Schülers namens Walter Klemmer kommt, auf die sie auf eine höchst spezielle Art eingehen wird. Erika wird als sadomasochistisch, genussunfähig und mit einem Hang zu selbstschädigendem Verhalten dargestellt.
Seit der Kindheit benutzt die Mutter sie für die Befriedigung eigener Bedürfnisse, und die Beziehungen beider sind entweder oberflächliche oder klammernd-abhängige. Erika wird wiederholt als eine Frau beschrieben, die am liebsten wieder in ihre Mutter hineinkriechen wolle, womit ein spätestens seit Supervielles Lämmchen bekanntes Bild aufgegriffen wird. Auf eine psychopathologische Komponente der Mutter-Kind-Dyade weist zudem der Name Kohut hin und überhaupt wird das Gesunde von Erika als Bürde wahrgenommen und als "Verklärung dessen, was ist", getreu dem Nietzscheschen "Denn gesund ist, wer vergaß."
Wie das Verhältnis zur Mutter ist auch das zu Klemmer von einer Hass-Liebe geprägt, die Jelinek originell in Worte fasst: "Die Tochter weiß noch nicht, ob sie einen Mord begehen wird oder sich dem Mann lieber küssend zu Füßen werfen."
Dabei ist Walter Klemmer nicht einfach nur ein Mann. "Klemmer ist die Norm" – ein Vertreter jener Norm, an der sich Erika seit jeher abarbeitet, und da sie daran ständig scheitert, fließt hin und wieder Blut. Ihr eigenes.

Die Erzählform ist eine auktoriale, jedoch wird häufig zur Perspektive einzelner Figuren gewechselt, und das erzählerische Präsens verringert eine Distanz, die durch den ironischen Erzählton vergrößert wird. Bei Jelinek implizieren Ironie, Sarkasmus und Parodie Wertung und Kritik, mal aus Perspektive einer der Figuren und mal aus Erzählersicht. Auch viele Sprichwörter werden auf diese Weise verfremdet. Parallel dazu ergänzt die Erzählinstanz Aussagen, Gedanken und Handlungen der Figuren durch Deutungen und Kommentare, die zuweilen allzu lehrhaft wirken, mitunter im selben Satz:
"Aber Bach ist mehr, triumphiert sie, ein Bekenntnis zu Gott, und das Lehrbuch der hierorts gebräuchlichen Musikgeschichte, Teil 1, österr. Bundesverlag, übertrumpft Erika noch, indem es lobhudelt, Bachs Werk sei Bekenntnis zum nordischen Spezialmenschen, der um die Gnade dieses Gottes ringt."

Ungewöhnlich vielfältig sind die verwendeten rhetorischen Figuren wie Übertreibung, Vergleich, Chiasmus, Oxymoron, Anapher, Figura etymologica, Metonymie, Anthropomorphismus, Allegorie und Entkörperlichung, etwa wenn Erika als Kind "über die Tonleiter in höhere Sphären aufgestiegen und der Körper als tote Hülle untengeblieben ist". Neologismen ("Giftmütter") sind ebenso zu finden wie prägnante Metaphern ("Saugnäpfe", "das geschmacklose Drops von Klemmers Liebesfortsatz").
Musikalität zeigt sich nicht nur im Spiel mit der Sprache, sondern auch in einer Vorliebe für Krebsstrukturen wie diese: "Nicht jeder Ton klingt so lange, wie er notiert ist, und nicht jeder ist so lang notiert, wie er klingen muss."
Eine ebenfalls aus dem Musikbereich bekannte Umkehrung ist in diesem Satz enthalten: "Jeder von beiden denkt, er verstehe es besser als der andere, der eine wegen seiner Jugend, die andere wegen ihrer Reife."
Krebs und Umkehrung können bei Jelinek sowohl den Satzbau als auch – wie im folgenden Beispiel – die Handlungsrichtung betreffen: "Erika entzieht sich allem und jedem, jedoch: wenn sich ihr jemand flink entzieht, dann folgt sie ihm sofort als ihrem Heiland nach, auf dem Fuße, wie von einem riesigen Magneten angezogen."
Die Dialoge – mal in indirekter, mal in erlebter Rede – ähneln in ihrer Wiedergabe einer Arie zweier Solisten und werden, als Erika und Klemmer auf den Konzertbetrieb zu sprechen kommen, tatsächlich als Duett bezeichnet.

Wenn – wie in dem bereits zitierten Beispiel mit "Jugend" und "Reife" – etwas begründet wird, was in diesem Werk nicht selten geschieht, dann sind diese Gründe meist personen- und somit rollenbezogen oder scheinbar gegenteiliger Natur, wie dort, wo Klemmer "gehen soll, weil er bleiben muss". Rollenspezifisches und damit verbundene diametrale Gegensätze werden in den Mittelpunkt gerückt und offensichtlich geht es Jelinek um wesentlich mehr als um die Aufarbeitung der eigenen Entwicklungsjahre, wobei bemerkenswert ist: Nachahmenswerte Rollenmodelle gibt es keine in diesem Roman.
Trotz der als Mangel empfundenen immer wieder mitschwingenden Wertung des Geschehens durch die Erzählinstanz ist die Lektüre unbedingt empfehlenswert. Der aus der Mutter-Tochter-Beziehung resultierende Erzählstoff ist allein schon fesselnd genug und die Affäre mit Klemmer sorgt für konventionelle Spannungsmomente. Hinzu kommt ein stilistischer Reichtum, der Teil einer unverwechselbaren und unangestrengten Sprache ist. Ein in der Lektüre von Literatur im engeren Sinn des Wortes geübter Leser wird daran seine Freude haben.


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