Man stelle sich einen Leser mit literarischen Ansprüchen vor, einen Leser, der auf der Suche nach Lektüre zu seinem Buchhändler geht. Was würde er dort finden? Bücher, die auf einen Massenmarkt zielen. Mal mangelt es ihnen an Sprache und mal mangelt es an Stoff, um jenem Leser zuzusagen. Meint dieser nun, er hätte sich vielleicht nur in der Zeit geirrt und wendet sich dem allgemeinen Kanon zu – würde er dann fündig werden? Vermutlich allenfalls vereinzelt, denn auch diese Kollektion dient primär dem Mittelmaß und – noch übler – dort fehlt es an Humor.
Man stelle sich vor, dass jener Leser im Laufe der Jahrzehnte einen Literaturkanon für sich und seinesgleichen erstellt, einen Kanon, in dem Literatur tatsächlich als Kunstgattung verstanden wird. 
  
Was hier folgt, ist der Kanon dieses imaginären Lesers, der wiederum stellvertretend für eine größere Leserschaft stehen mag. All jenen aber, die hier Populäres oder gar Wissenschaftlichkeit befürchten, sei das Gegenteil versichert. 
Kanon der Literatur 
易 經 (Yìjīng), dt. I Ging.

Homer: ἡ Ὀδύσσεια, dt. Odyssee.

उपनिषद्, dt. Upanishaden.

Die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets.

Vergessene, uns heute gänzlich unbekannte Werke.

Meister Eckhart: Predigten.

Nikolaus von Kues: De docta ignorantia, 1440, dt. Über die belehrte Unwissenheit.

Das Buch, von dem Sancho im zweiten Kapitel des zweiten Teils des Don Quijote berichtet.

Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, 1759-67.

Teresa von Ávila: Castillo Interior, 1577 (veröffentlicht 1588), dt. Die innere Burg.

Das Buch, das Jean-Honoré Fragonards lesendes Mädchen in den Händen hält.

Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray, 1890.

Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien, 1929 (veröffentlicht 1957).
 
Fernando Pessoa: Livro do Desassossego, 1934 (veröffentlicht 1982), dt. Das Buch der Unruhe.

Sadeq Hedayat: بوف کور (Boof-e koor), 1936, dt. Die blinde Eule

Witold Gombrowicz: Ferdydurke, 1937

Michail Bulgakow: Мастер и Маргарита, 1940, dt. Meister und Margarita.
 
Flann O'Brien: The Third Policeman, 1940 (veröffentlicht 1967).
 
Das in Borges Die Bibliothek von Babel erwähnte kreisförmige Buch, dessen Rücken rund um eine Wand läuft.
 
Julien Gracq: Le Rivage des Syrtes, 1951, dt. Das Ufer der Syrten

Yukio Mishima: 金閣寺 (Kinkaku-ji), 1956, dt. Der Tempelbrand, Der goldene Pavillon.
 
Italo Calvino: Il cavaliere inesistente, 1959, dt. Der Ritter, den es nicht gab.

John Barth: The Sot-Weed Factor, 1960.

Julio Cortázar: Rayuela, 1963.
 
Andrej Bitow: Пушкинский дом, 1971 (veröffentlicht 1978), dt. Das Puschkinhaus.
 
William Gaddis: J R, 1975. 
 
Thomas Bernhard: Der Untergeher, 1983.

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin, 1983.

Milorad Pavić: Hazarski rečnik, 1984, dt. Das Chasarische Wörterbuch.

Cormac McCarthy: Blood Meridian, Or the Evening Redness in the West, 1985.

Philip Roth: Sabbath’s Theater, 1995.

Olga Tokarczuk: Prawiek i inne czasy, 1996, dt. Ur und andere Zeiten.

Viktor Pelewin: Чапаев и Пустота, 1996, dt. Buddhas kleiner Finger.

Robert Coover: Ghost Town, 1998.
 
Orhan Pamuk: Benim Adım Kırmızı, 1998, dt. Rot ist mein Name.
 
Magdalena Tulli: Tryby, 2003, dt. Getriebe.

Liilá Choi, Stundenbücher, 2010
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